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Zeit der Wunder

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    Zeit der Wunder

    Wie konnte das geschehen, dass sich im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung Deutschlands in einem Theater hinter den sieben Bergen renommierte Künstler die Klinke in die Hand gaben, die den Ort bestenfalls vom Hörensagen kannten? Die meisten von ihnen hätten wohl einen weiten Bogen um Plätze geschlagen, die ihnen nicht von vornherein die gewohnte Aufmerksamkeit garantierten: August Everding gastierte am Meininger Theater, Loriot, Klaus Maria Brandauer, Ephraim Kishon, Peter Konwitschny, Fritz Bennewitz, Rolf Hochhuth, Mikis Theodorakis, Krysztof Penderecki, Jewgenij Jewtuschenko, Werner Schneyder, Janusz Wisnieswki, die Royal Shakespeare Company, Gunther Emmerlich, Angelika Domroese, Manfred Wekwerth, Brigitte Fassbaender, die Berliner Philharmoniker mit Claudio Abbado und Daniel Barenboim undundund.

    Alles beginnt mit dem Ende. Die junge Schauspielerin Marianne Thielmann fordert bei einer Betriebsversammlung des Meininger Theaters Ende November 1989 den Rücktritt des parteitreuen Intendanten Jürgen Juhnke. Er genieße nicht mehr das Vertrauen der Mitarbeiter. Juhnke sitzt mit dem Leitungsgremium des Theaters auf der Bühne des Großen Hauses und weigert sich, sein Amt zur Verfügung zu stellen.

    Daraufhin steht die Thielmann – selbst Tochter eines früheren Theaterintendanten - auf und verlässt demonstrativ den Saal. Nach wenigen Minuten befindet sich das Direktorium allein auf weiter Flur. Sämtliche Mitarbeiter im Zuschauerraum – über 300 – erheben sich von ihren Plätzen und folgen der jungen Schauspielerin.

    Der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems spiegelt sich auch in den zerfallenden Machtstrukturen einer kleinen, gleichwohl traditionsreichen Institution am Rande des Thüringer Waldes. Das Ende des alten Meininger Theaters markiert den Beginn eines spektakulären Theaterjahrzehnts in der Provinz, von dem in dieser Serie in den kommenden Monaten erzählt werden soll: der Ära des Intendanten Ulrich Burkhardt – der am 30. August 1997 tödlich verunglückte – und der ersten Jahre der Ära Christine Mielitz, die mit ihrem „Ring des Nibelungen“ 2001 für internationale Aufmerksamkeit sorgte. Die wiederentflammte Leidenschaft und der unerschütterliche Optimismus, mit denen in den 1990er-Jahren am Meininger Theater gearbeitet wurde, sind in ihrem Ausmaß und in ihren Folgen auf diese Weise nicht wiederholbar.

    Ulrich Burkhardt brannte für sein Theater – und er erwartete das auch von all seinen Mitarbeitern, egal ob sie vor oder hinter den Kulissen tätig waren. Und die Mitarbeiter krempelten die Ärmel hoch und packten an, jeder auf seine Weise. In den nationalen Feuilletons kursierte damals der Satz vom „Wunder von Meiningen“.

    Wir wollen mit dieser Serie erforschen, was aus Künstlern, die in den 1990er-Jahren kürzere oder längere Zeit am Meininger Theater engagiert waren, geworden ist und was sie heute über jene Jahre zu erzählen wissen. Künstler wie Kirill Petrenko, Elena Garanca und Jörg Hartmann, die in den Folgejahren im Blickpunkt einer internationalen Kulturöffentlichkeit standen, Künstler, die der Bühne treu geblieben sind, wie Ingolf Huhn, Intendant des Theaters in Annaberg-Buchholz, wie Michael Kinkel, Christian Erdmann, Wolfgang Böhm oder Muriel Wenger, Schauspieler oder Sänger, die sich in ihrem Metier veränderten, wie Stefan Schael oder die Sopranistin Radka Loudová-Remmler, oder solche, die inzwischen ihren Beruf an den Nagel gehängt haben, wie die Schauspielerin Barbara Wachholtz, die am Staatstheater Schwerin als Souffleuse arbeitete, oder der Regisseur Thomas Lange, inzwischen Wachmann in einem Dresdener Museum.

    Wer im Einzelnen bereit ist, sich offen und ehrlich an seine Meininger Zeit zu erinnern, das wird sich im Lauf der Recherchen herausstellen.

    25 Jahre gibt es das neue Meininger Theater – rechnet man ab der Spielzeit 1990/91 und der Wiedervereinigung Deutschlands. 25 Jahre, die ohne das leidenschaftliche Engagement der Theaterleute in den Gründerjahren, ohne Experimentierfreude, Mut, Pfiffigkeit, augenzwinkernder Ernsthaftigkeit und der Kunst der Improvisation nicht zu jenem Wunder hätte führen können, von dem das Theater heute noch zehrt. Trotz der vielen Unwägbarkeiten und der Notwendigkeit spontaner Entschlüsse hatten die Macher damals die Interessen des Publikums aus dem thüringischen und dem wiedergewonnenen fränkischen und hessischen Umland im Blick und, selbstredend, die Balance von Tradition und Moderne im Sinne des Theaterherzogs Georg II. Einige Jahre später verlor ein Intendant mit einer Vorliebe für Jugend und Avantgarde die gepflegten existenziellen Tugenden am Meininger Theater aus den Augen, was beinahe zum Zusammenbruch des Systems Stadttheater am Lande geführt hätte. Dann begann mit der Ära Haag ein neuer Aufbruch, der natürlich mit dem der 1990er-Jahre nicht zu vergleichen war. Aber das ist eine andere Geschichte.

    Um im Theater den Geheimnissen des ersten Jahrzehnts auf die Spur zu kommen, benützt man am besten nicht den säulengetragenen Haupteingang des Gebäudes, ja nicht einmal den Bühneneingang. Es ist ratsam, erst dort auf Entdeckungsreise zu gehen, wo die Uhren langsamer zu ticken scheinen als im hektischen Tagesbetrieb. In der Bühnenbildnerei, im ersten Stock des Werkstattgebäudes - gleich neben dem Malsaal -, findet man am Ende eines langen, engen Flures ein paar Zimmer, die tatsächlich so etwas wie das Ende der Welt bedeuten könnten. Wer jetzt ein bisschen blinzelt, könnte sich schnell durch Raum und Zeit geschleudert fühlen. Tausenderlei nützlicher Krimskrams aus dem Ausstattungsfundus der vergangenen Jahrzehnte lagert bis unter die Decke in den Regalen - von Bühnenbildmodellen bis zu Blechdosen mit geheimnisvollen Flüssigkeiten. Die schier überquellende Fülle an Gegenständen mag irritierend chaotisch wirken und an einen Haushalt erinnern, in dem nichts weggeworfen wird, weil Großmutters Marmeladenglassammlung noch einmal gebraucht werden könnte.

    Für die reiferen Herren, die da zwischen all den kleinen und großen Fossilien auf zerschlissenen Sesseln und einem farbbeklecksten Stuhl sitzen und sich aus einer antiken Maschine duftenden Kaffee einschenken, für die reiferen Herren sieht das etwas anders aus. Dem Ausstattungsleiter Helge Ullmann (58), seinem Kollegen Christian Rinke (52) und dem Chef des Malsaals, Roland Artus (62), ist das vertraut, was man gemeinhin „kreatives Chaos“ nennt. Sie wissen, wo alle Elementarteilchen zu finden sind, die vielleicht für die Vorbereitung einer neuen Inszenierung gebraucht werden könnten. Schließlich gehören die drei zu den Dienstältesten im Hause. Artus ist seit 38 Jahren am Meininger Theater, Ullmann seit 1986 und Rinke seit 1988. Das überbordende Sammelsurium in der Bühnenbildnerei – 1995 wurde das Werkstattgebäude in Betrieb genommen – verwirrt die Männer vermutlich weniger, als es sie inspiriert. Jedem Fossil, jedem noch nutzbaren Gegenstand wohnt eine Geschichte inne – eine Geschichte, die auch ein Staubkörnchen der Geschichte des neuen Meininger Theaters ist.

    Wenn man Helge Ullmann nach ein paar Fotos aus den Anfangsjahren fragt, greift er ohne Mühe zu einem Ordner in einer Reihe von mehr als einem Dutzend, in dem die Inszenierungen, die von ihm ausgestattet wurden, fein säuberlich chronologisch abgeheftet liegen, mit Fotos, Skizzen, manche sogar mit Programmheften und Kritiken.

    In den Köpfen der Drei stapeln sich so viele Anekdoten wie Plakate, Notizzettel und Skizzen an der Wand kleben. Im Anekdotenreich von Albert R. Pasch, dem ehemaligen Schauspieldirektor, der mit einigen Unterbrechungen, man könnte meinen: seit Menschengedenken am Theater ist, geht es beim Gespräch ein paar Tage später nicht anders zu. Und auch Hans-Joachim Rodewald und Michael Jeske – bereits vor 1989 Schauspieler am Meininger Theater -, könnten, wenn sie denn wollten, ohne Probenzeit eine 24-Stunden-Dramödie von Geschichten hinter den Kulissen gestalten, ohne zu langweilen.

    Hier aber sollen die Erinnerungen jener im Mittelpunkt stehen, die die Zeit der Wunder mitgestaltet haben und Meiningen verließen, um andernorts ihr Glück zu suchen. Was ist aus ihnen geworden? Wie haben sie die Jahre am Meininger Theater geprägt? War es für sie tatsächlich eine Zeit der Wunder, die damit begann, dass eine junge Schauspielerin bei der Betriebsversammlung des Theaters den Saal verließ und ihr die Mitarbeiter folgten?

    Bevor wir auf Wanderschaft gehen, orientieren wir uns an einem denkwürdigen Satz Helge Ullmanns: „Als die 90er Jahre vorbei waren, da wusste ich gar nicht, wie mir war. Das ist alles so schnell gegangen. Das war alles so intensiv. Man hat so viel erlebt und man hat so viel gearbeitet. Es war eine einzige Freude, an dieser Geschichte teilhaben zu können.“ Schließen wir also die Augen, greifen in die riesengroße Wunderkiste der Bühnenbildnerei, suchen nach Elementarteilchen aus den 1990er-Jahren – und lassen uns überraschen. Wird fortgesetzt

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