Eine Frau anfangs 20 lernt in einer Diskothek einen sechs Jahre älteren Mann kennen, der sich als Privatdozent und Doktor der Psychologie vorstellt. Stimmt nur nicht. Der Kontakt zu ihm kostet Geld, viel Geld. Die Frau ist dem Mann verfallen, übergibt nicht nur hohe Geldbeträge, sondern schließt auf sein Geheiß auch eine Lebensversicherung zu Gunsten des Hochstaplers ab, was wiederum nur Sinn macht, wenn sie aus diesem Leben scheidet.
Sie willigt ein, glaubt ihrem Liebhaber, dass sie in einem neuen Körper auf dem Planeten Sirius weiterleben werde. Nach zwei fehlgeschlagenen Selbstmordversuchen offenbart sich die Frau doch der Polizei, bringt den Sirius-Erfinder auf die Anklagebank. Am Ende wird der Mann wegen versuchten Mordes verurteilt.
„Obwohl er gar nicht persönlich Hand angelegt hat“, schreibt Ernst Reuß in seinem Buch „Mord? Totschlag? Oder was?“. Reuß stammt aus Bergrheinfeld, ist Jurist, wohnt in Berlin und hat in seinem neu erschienenen Buch tatsächlich einiges „Bizarres aus Deutschlands Strafgerichten“ beschrieben, wie es im Untertitel heißt.
Das erste Kapitel ist der beschriebene „Sirius-Fall“. Reuß behandelt darin weitere 13 Strafrechtsfälle aus dem Bereich Mord und Totschlag, alle skurril mit einer juristischen Eigentümlichkeit. Es geht um Totschlag auf Verlangen, um Ehrenmord. Ausführlich widmet sich Reuß auch dem durch alle Medien gegangenen Fall von Zivilcourage in München. Dominik Brunner starb am 12. September 2009 an den Folgen einer Prügelei mit Jugendlichen an einer U-Bahn-Station. Brunner hatte sich schützend vor attackierte Jugendliche gestellt.
Reuß, obwohl selbst Jurist, „übersetzt“ die Urteilsbegründungen aus Originalquellen in eine verständliche Sprache, kommentiert Fakten mit Einschüben, die diese 223 Seiten so lesenswert machen. Beim Siriusfall etwa stellt er nüchtern fest, dass ein Selbstmord für die Justiz zunächst mal nicht strafbar ist. „Da beißt die Maus keinen Faden ab“, merkt er an, erklärt aber „für den Nichtjuristen“ das Urteil wegen versuchten Mordes: Weil sich die potenzielle Selbstmörderin ihres Handelns nicht bewusst war, der Mann aber sehr wohl, sei er als Täter anzusehen, weil er die Frau als ein „willenloses Werkzeug gegen sich selbst benutzt“ habe.
Reuß ist ein „echter Bercher“, hat im Schweinfurter Vorort bis zum Studienbeginn gewohnt, dort Fußball gespielt und auf Weinfesten, Tanzcentern und Kirchweihen mit seiner „wilden Clique über die Stränge geschlagen“. Zu den meisten hat er noch Kontakt, sagt er im Interview.
Die Eltern wohnen noch immer in Bergrheinfeld, die Schwester lebt in Nürnberg. Der 52-Jährige machte am Humboldt-Gymnasium das Abitur, studierte nach der Bundeswehr als „nicht anerkannter Kriegsdienstverweigerer“ in Erlangen Jura. Zwei Auslandssemester machte er in Wien, zum Geldverdienen ging es stets zurück in die Heimat – als Werkstudent in allen drei Schweinfurter Fabriken SKF, Sachs und Kufi. Das ermöglichte auch einige Rucksackreisen, damals vor allem in Südamerika, in der Karibik, zuletzt durch Indien.
Das Referendariat verbrachte Reuß am OLG Nürnberg, dann der Wechsel an die Freie Universität Berlin als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Promotion zur Berliner Justizgeschichte. Davon zeugt auch die Publikation „Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern“, ebenso lesenswert und 2012 im Vergangenheitsverlag Berlin erschienen.
Auch politisch ist er aktiv. Reuß hatte sich, „als der Neoliberalismus nicht mehr auszuhalten war“, wie er sagt, parteipolitisch bei der Gründung der WASG in Berlin engagiert. Er wurde Sprecher des Bundesschiedsgerichts der Partei, lernte Klaus Ernst kennen. Was viele nicht wissen: Einige Zeit leitete Reuß dessen Büro. Man trennte sich aber wegen unterschiedlicher menschlicher wie politischer Auffassungen.
Reuß war danach einige Zeit Seminarleiter für die Betriebsräte-Schulung, konzentriert sich heute auf das Schreiben von Büchern und Zeitungsartikeln. Auch in dieser Zeitung sind 2013 seine Recherchen zu einem am 12. April 1945 in Schweinfurt geschossenen Foto der 1971 im Alter von 67 Jahren verstorbenen Life-Fotografin und Korrespondentin Margaret Bourke-White erschienen. Das Foto zeigt den erweiterten Suizid einer vermeintlich fanatischen Nationalsozialistin. Reuß beschrieb darin die Hintergründe.
Auch sein 2005 erschienenes Buch „Gefangen!“ hatte mit der Heimat zu tun. Reuß setzt sich darin mit dem Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg auseinander, zu dem seine beiden Großväter aus Bergrheinfeld und Rottendorf den Anstoß gegeben hatten. Derzeit arbeitet er an der Fortsetzung von „Mord? Totschlag? Oder was?“. Auch diese wird im Militzke Verlag Leipzig erscheinen.