Wie schwer es ist, vom Alkohol loszukommen, weiß wohl kaum einer besser als Reinhard Öhrlein. Der heute 64-Jährige trank einst Bier in rauen Mengen. „Bis morgens um neun waren es zu meiner ,Glanzzeit' fünf Flaschen“, sagt er. Als seine Frau drohte, ihn zu verlassen, setzte er alles daran, sich von seiner Sucht zu befreien. Beim Blauen Kreuz fand er Unterstützung. Seit 100 Jahren hilft der Würzburger Ortsverein Alkoholkranken. Am Sonntag, 1. Juni, wird das Jubiläum mit einem Festgottesdienst gefeiert.
Früh schon erkannte Reinhard Öhrleins Frau Brigitte an ihrem Mann Alarmzeichen, die auf eine Abhängigkeit hindeuteten. Doch er selbst wiegelte lange ab. Oft war Brigitte Öhrlein völlig verzweifelt, weil ihr Gatte so viel trank. Und die Familie draußen blamierte.
Doch es nützte nichts, loszuschimpfen wenn er betrunken nach Hause kam. Es nützte nichts, ihm Vorwürfe zu machen. Nichts nützte etwas. „Ich wollte gehen, ihn andererseits aber auch nicht im Stich lassen“, sagt Brigitte Öhrlein. Irgendwann ging es ihr körperlich und seelisch so schlecht, dass ihr Hausarzt sie zur Kur schickte. Ein dort tätiger Therapeut machte ihr klar: Entweder würde ihr Mann trocken oder sie müsste sich scheiden lassen. Als die Trennung kurz bevorstand, realisierte auch Reinhard Öhrlein den Ernst der Lage. „Am 13. Februar 1991 hörte er mit dem Trinken auf“, schildert Brigitte Öhrlein: „Das war an unserem 20. Hochzeitstag.“
Bei Monika Bewig ging es irgendwann gesundheitlich so stark bachab, dass ihr klar wurde: Sie musste etwas gegen ihre Alkoholsucht tun. Bewig trank Wein: „Anfangs ganz normal bei Geburtstagsfeiern.“ Vor 20 Jahren hatte ihre Suchtkarriere ihren Höhepunkt erreicht. Sie trank extrem viel. Was einer Bekannten auffiel: „Sie war selbst abhängig und fragte mich, ob ich sie einmal zum Blauen Kreuz begleiten würde.“ Das tat Monika Bewig. Wobei sie dachte: „Ich tue ihr einen Gefallen.“ Irgendwann dämmerte ihr, dass sie etwas gegen ihre eigene Abhängigkeit unternehmen musste. Zwei stationäre Therapien waren nötig, bis der Ausstieg vor zwölf Jahren klappte.
Ob jemand, wie Reinhard Öhrlein, fast stündlich, ob er täglich oder „nur“ wöchentlich trinkt, ist egal: Sowie das Leben ohne Alkohol nicht mehr denkbar ist, kann unabhängig vom Zyklus von „Abhängigkeit“ gesprochen werden. Das Blaue Kreuz unterstützt seit 1914 Menschen, die vom Alkohol wegkommen wollen. Heute nehmen knapp 200 Männer und Frauen am Gesprächskreis, der donnerstäglichen Nachmittagsgruppe, der Gruppe für junge Betroffene oder der Ehepaargruppe teil. „Bei uns lernen die Menschen, wieder etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen“, schildert Monika Bewig, die eine der vielen Gruppen im Ortsverein leitet und inzwischen auch Vorstandsmitglied ist.
30 Ehrenamtliche ansprechbar
Ganz schön schwierig, auf das Bier zum abendlichen Sandwich zu verzichten, wenn man das jahrelang gewohnt war. Wie haben andere den Absprung geschafft? Wie gehen sie in einer Welt, in der quasi an jeder Ecke Alkohol angeboten wird, damit um, permanent „Nein“ sagen zu müssen? Beim Ortsverein des Blauen Kreuzes sind rund 30 Freiwillige ansprechbar für alle diese Fragen. Die meisten sind, wie Reinhard Öhrlein und Monika Bewig, selbst Betroffene, die sich von ihrer Sucht befreien konnten. Aber auch die Diakonissinnen Schwester Rosemarie Schmollinger und Schwester Annie Blues engagieren sich freiwillig für den Ortsverein.
Die Öhrleins haben für ihre Gäste nach wie vor allerlei Trinkbares im Haus – allerdings seit 23 Jahren keinen Alkohol mehr. Eigentlich könnten sie das Thema „Sucht“ weit hinter sich lassen. Doch sie wollen sich weiter dafür einsetzen, dass auch andere den Absprung schaffen. Früher war es selbstverständlich, dass jene, die Hilfe beim Blauen Kreuz erhielten, ihre Erfahrungen weitergaben. Heute sind die wenigsten Abhängigen, die in eine der 14 Gruppen kamen, nach Freiwerden von ihrer Sucht bereit, selbst eine Gruppe zu leiten. Schwester Rosemarie: „Was für unsere Ehrenamtlichen heißt, dass sie mittlerweile an ihrer äußersten Grenze arbeiten.“
Festgottesdienst und Kontaktadresse
Am Sonntag, 1. Juni, feiert das Blaue Kreuz um 10 Uhr sein 100-jähriges Bestehen mit einem Festgottesdienst mit Abendmahl (Traubensaft) in der Kirche St. Stephan in Würzburg. Liturgie: Pfarrer Jürgen Dolling; Predigt: Robert Göß, Sekretär Blaues Kreuz; musikalische Gestaltung: Lothar Schenk, Trompete, Christian Heidecker, Orgel. und Singkreis Blaues Kreuz. Zu Stehempfang und Imbiss wird anschließend in der Kirche eingeladen.
Der Ortsverein des Blauen Kreuzes befindet sich in Würzburg in der Martin-Luther-Straße 5b. Hier können sich suchtkranke Menschen individuell persönlich, telefonisch oder per Mail über Behandlungsmöglichkeiten beraten lassen. Auch ist die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe in Würzburg, Schweinfurt oder Ochsenfurt möglich. Das Blaue Kreuz kann unter Tel. (09 31) 5 43 30 oder per E-Mail unter ortsverein.wuerzburg@blaues-kreuz.de kontaktiert werden. TEXT: PAT