Hatte dieses Mal Bundespräsident Horst Köhler an Friedens- und Versöhnungswillen appelliert, so war es 1955 sein Amtsvorgänger Theodor Heuss, der die 9628 Männer und Frauen zurück in Deutschland willkommen hieß. Nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer im Oktober 1995 waren sie aus Kriegsgefangenschaft freigekommen.
Es war fast ein kleines Drama, als "Papa Heuss" die Heimkehrer väterlich aufforderte, nun doch endlich die dritte Strophe des Deutschland-Liedes zu singen. Doch es sei immer wieder die erste ertönt, erinnert sich Paul Küstner noch heute. Küstner, ehemaliger Standarten-Oberjunker der SS-Division "Das Reich", war mit zwei anderen Würzburgern unter den 599 Heimkehrern des 19. Transportes aus der Sowjetunion. Alle waren aus dem Lager 5110/26 (Asbest) hinter dem Ural gekommen.
"Am 18. Oktober 1955 hatte ich wieder deutschen Boden betreten", schildert Paul Küstner gerührt die Geschehnisse von damals. "Am 19. war ich dann mit drei anderen Heimkehrern zurück in Würzburg. In der Heimatstadt begrüßte uns Stadtrechtsrat Schindler mit einem Blumenstrauß. Heimkehrerverband und Rotkreuz-Vertreter waren anwesend." 3811 Tage voller Entbehrungen, Schmerz und Sehnsucht hinter sowjetischem Stacheldraht lagen hinter dem heute 84-jährigen Verwaltungsamtmann i. R. der AOK Würzburg.
"Ein Triumphzug sondergleichen. Wir waren überwältigt."
Paul Küstner, 1945 bis 1955 russischer Kriegsgefangener
Im September 1939 wurde Paul Küstner von der Hitlerjugend zur Musterung aufgefordert, um "als Freiwilliger bei der Verfügungstruppe zu dienen". 1,76 Meter groß und ohne Brille - von 300 aufgeforderten HJ-Führern wurden nur zwölf als "tauglich" gemustert.
"Wir dachten, der Krieg ist bald aus. Familienväter sollten daheim bleiben können", erinnert sich Küstner. Doch alles kam anders. Der junge Mann nahm am Westfeldzug teil, war mit seiner Einheit auf dem Balkan und in Russland. Verletzt und schwer erkrankt war er später Ausbilder in Holland und in den letzten Kriegstagen nach einem Lehrgang in die Ostmark in Marsch gesetzt.
Am 8./9. Mai 1945 geriet Küstner in amerikanische Kriegsgefangenschaft bei Linz in Österreich. Und dort geschah das für die abgekämpften deutschen Soldaten Unfassbare: Obwohl schon hinter der amerikanischen Demarkationslinie in Westösterreich und sich freiwillig ergebend, täuschten die Amerikaner 24 000 kriegsmüde Kämpfer. Zwei Kilometer vor dem Ort Pregarten bei Linz rief die Zivilbevölkerung den Soldaten zu: "Die Russen warten auf euch." Doch zu spät. Ein russischer Kommissar mit großem Sowjetstern auf der Brust empfing grinsend auf einer Anhöhe stehend die Verzweifelten, sieht Küstner heute noch die Szene vor sich.
Die deutschen Soldaten wurden von Rotarmistinnen auf russischen Pkws mit der Lautsprecherparole begeleitet: "Keiner kehrt zurück!" Auf den Marsch zu den Russen gab es massenhaft Erschießungen erschöpfter deutscher Kriegsgefangener, die bei dem von US-Panzern vorgelegten Tempo nicht mitkamen. Die US Army hatte die SS-Totenkopf-Division und andere Einheiten vertragsbrüchig ausgeliefert.
Zig Verhöre, Einzelhaft
Paul Küstner kam mit der Bahn über Rumänien nach Russland und war dort in den verschiedensten Gefangenenlagern. Das letzte war Asbest 100 Kilometer ostwärts von Swerdlowsk in Sibirien. Ein russischer Kommissar hatte ihn "besonders auf dem Kieker". Von 1946 bis Ende 1948 gab es zig Verhöre, Einzelhaft in Gefängnissen und Hungerzeiten. Am 1. Dezember 1948 gab es einen Prozess ohne Zeugen und richtige Verteidigung. Berufung wurde abgelehnt. Todesstrafe wurde in 25 Jahre Straflager umgewandelt.
Vor etwa zehn Jahren konnte der Würzburger sich seine Lagerakten mit Urteil und Beschlüssen aus russischen Archiven besorgen. Küstner hat die Kopien noch daheim. Er hat auch als ehemaliger SS-Soldat kein schlechtes Gewissen, da es - wie er sagt - bei seinen militärischen Einsätzen zu keinen Gräueltaten gekommen sei.
In den Kriegsgefangenenlagern war bei Wind, Wetter, Hunger und Eiseskälte härteste Fronarbeit zu leisten. Zuletzt in Asbest, wo im Tagebau Asbest abgebaut wurde und der Asbest-Staub die Lunge zerstören konnte.
Hoffnungsschimmer Bern
1954 gab es einen Hoffnungsschimmer. Beim Fußball-Weltmeisterschafts-Endspiel in Bern gegen Ungarn hatten die russischen Wachen Radios aufgestellt. Das kommunistische Brudervolk sollte gewinnen. Als Deutschland 2:1 siegte, war im Lager eine Stimmung, als ob Deutschland den Krieg gewonnen hatte, beschreibt Küstner die Freude.
Adenauer fuhr 1955 nach Moskau. Hoffnung keimte auf. Endlich wurde der erste Transport aufgerufen. "Ich war dabei", so Küstner. "Ein Sowjetgeneral sprach zu uns. Wir seien amnestiert und frei. Die Posten fuhren weg. Die Zug-Waggons fuhren fast pausenlos. Als Zugbegleiter waren nur ein Kommissar und eine Ärztin dabei. In Frankfurt/Oder luden Lautsprecher uns ein, in die DDR zu kommen. Nur einer stieg aus."
Am Morgen um 6 Uhr rollte der Zug bei Herleshausen über die Grenze. Ein unglaubliches Gefühl überfiel die Freigekommenen. Tränen flossen. Das Rote Kreuz versorgte auch Paul Küstner. Telegramme wurden in die Heimatstädte geschickt. Mit Omnibussen ging es nach Friedland. "Ein Triumphzug sondergleichen. Wir waren überwältigt. Das hatten wir nicht erwartet. Meine Eltern holten mich ab", erinnert sich Küstner.
Der junge Würzburger war jetzt 34 Jahre alt, fünfeinhalb Jahre seines Lebens im Krieg und zehneinhalb Jahre hinter Stacheldraht.