Sie sind zurückgekehrt. Zum fünften Mal. Als hätten sie etwas liegen gelassen – in der Würzburger Sterngasse, wo sie als Buben Fußball spielten. Wo sie als Juden beschimpft wurden. Von wo sie vertrieben und ins Konzentrationslager bei Riga deportiert wurden. Wo sich, Hausnummer 12, die prächtige Hofanlage der Metzgerfamilie Mai befand – und an gleicher Stelle heute Autos parken. An diesem Ort stehen Fred Zeilberger und Herbert Mai nun – beide US-Amerikaner, beide 81 Jahre alt, Freunde zeitlebens – und fragen sich selbst, was sie hier suchen: „Vielleicht unsere Jugend. Aber wir finden sie nicht.“
Man hat sie ihnen geraubt, die unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit. Acht Jahre alt ist der kleine Fred (er wohnte in der Sterngasse 6), neun Jahre alt Herbert, als in der Nacht des 9. November 1938 der Nazi-Mob auch durch Würzburg wütet und überall jüdische Einrichtungen zerstört werden. Die Wohnung der Mais in der Sterngasse wird verwüstet.
„Sie sind gekommen und haben Fenster und Schränke eingeschlagen, haben das Sofa zerrissen.“ Eingebrannt haben sich Herbert Mai diese dunklen Stunden, denen noch dunklere folgen sollten. In jener Nacht findet die Familie Zuflucht bei Tante Lina. Die Musiklehrerin durfte mietfrei im oberen Stock des Mai-Hauses wohnen. Bis 1941, da weist man sie in eine jüdische Nervenheilstätte ein. Im Alter von 56 Jahren wird sie im März 1942 nach Ostpolen deportiert und ermordet. An Lina Mai erinnert seit Donnerstag ein Stolperstein in der Sterngasse, es ist der 332ste in Würzburg. Er reiht sich an die im Pflaster verlegten Gedenksteine für die Eltern von Herbert Mai und Fred Zeilberger sowie dessen Schwester Ilse. Alle wurden sie mit der ersten von sechs mainfränkischen Juden-Deportationen Ende November 1941 nach Riga transportiert und später im KZ umgebracht.
Auch Herbert und Fred, die beiden Freunde, steckte man in den Zug. Als einzige Würzburger haben sie diese Deportation überlebt, von den NS-Behörden als „Evakuierung“ beschönigt. Minutiös war sie geplant. Die Opfer – sie verloren ihre Namen. Herbert Mai wurde zur Evakuierungsnummer 267, Fred Zeilberger zur 307.
Wie ein Zwölfjähriger das Grauen im KZ verarbeitet? Vermutlich nie. Herbert Mai hat keine Antwort parat, nur eine Frage: „Was passiert mit einem Jungen, wenn vor seinen Augen Menschen erschossen werden?“
70 Jahre ist das her, die Zeit helfe Wunden zu heilen. Und dennoch: „Man muss vergeben. Aber vergessen können wir nie“, sagt Fred Zeilberger. Beide sind sie – nach dem Krieg vorübergehend in Würzburg – im Januar 1947 mit einem Kindertransport in die USA emigriert, wurden von Tanten und Onkeln aufgenommen. Beide gingen sie zur Army, wurden Metzger. Beide heirateten und gründeten Familien. Beide treffen sich regelmäßig – im Winter, wenn Fred und Gattin Elaine die New Yorker Wohnung gegen ihr Häuschen in Florida tauschen, um hier die kühlen Monate zu verbringen. Herbert und Helen Mai haben sich vor zehn Jahren dauerhaft in Florida niedergelassen. Die Ehefrauen der Würzburger Bubenfreunde telefonieren jeden Tag miteinander.
Anlass für den neuerlichen Besuch am Main war die Verlegung des Stolpersteines für Lina Mai. Nach einer kurzen Feier in der Sterngasse hatte Bürgermeisterin Marion Schäfer in den Wenzelsaal des Rathauses eingeladen. Sie dankte dem verantwortlichen Arbeitskreis für die Stolpersteine. Sie seien Erinnerung und zugleich Mahnung, für Demokratie zu kämpfen und sich gegen Diskriminierung und Rassismus zu wehren.
Wenn Herbert Mai heute durch die Sterngasse läuft, denkt er an die verlorene Kindheit, an die verlorenen Eltern. Aber es gibt noch etwas anders, das den bald 82-Jährigen beinahe täglich ins Grübeln bringt und Bitterkeit hochsteigen lässt: „Ich habe mein Zuhause gleich zweimal verloren.“ Erst scheuchten die Nazibanden die Familie aus dem elterlichen Haus. Es wurde bei der Bombardierung dem Erdboden gleichgemacht, so blieb dem jungen Erben nur das Grundstück. Doch die Stadt habe ihn gedrängt, es („für ein paar Groschen“) zu verkaufen. Man wolle dort eine Straße bauen. Dass dann ein Parkplatz daraus wurde, das habe ihn erschüttert.
Ebenso der Umstand, dass Würzburg – im Gegensatz zur Geste anderer Städte – bis heute seine Holocaust-Überlebenden nicht eingeladen hat. An drei Würzburger Oberbürgermeister habe er deshalb geschrieben. Umso erfreuter hörte er die Nachricht von Benita Stolz (Arbeitskreis Stolpersteine): Just diese Woche seien Einladungen verschickt worden. Im April 2012 soll es soweit sein. Dann dürften, mit den wenigen verbliebenen Holocaust-Überlebenden, auch die Freunde Fred und Herbert wieder den Weg zurück nach Würzburg finden.