Die "Ilias" des Homer, entstanden im achten oder siebten Jahrhundert vor Christus, gilt als einer der Urtexte der Weltliteratur. Homer war wohl der erste Autor überhaupt, dem es gelang, vor mythischem Hintergrund echte menschliche Motivationen zu verhandeln. Das gigantische Versepos schildert 51 Tage der zehnjährigen Belagerung Trojas durch die Griechen um Agamemnon, Achill und Odysseus. Es enthält in Überfülle alles, was ein gutes Drama braucht – Liebe, Hass, übersteigertes Ehrgefühl, Machthunger und jede Menge Grausamkeit.

Genug also, um über die Jahrhunderte Künstler zu inspirieren, von Rubens über Tiepolo und Cy Twombly bis hin zu Wolfgang Petersen und seiner Hollywood-Verfilmung mit Brad Pitt als Achill. Genug auch, um vor Augen zu führen, wie zeitlos das Thema ist. Anders gesagt: Betrachtet man den russischen Überfall auf die Ukraine, könnte man auf den Gedanken kommen, die Menschheit sei seit der Bronzezeit nicht viel weitergekommen.

Niemand stieg in der Auseinandersetzung mit Homer so tief ein wie Martin von Wagner (1777-1858), der Würzburger Professor, Forscher, Künstler, Sammler und Kunstagent Ludwigs I., der freilich die meiste Zeit seines Lebens in Rom verbrachte. Die neue Ausstellung "Antike erfinden" im Universitätsmuseum in der Würzburger Residenz, das seinen Namen trägt, zeigt das aus vielen Blickwinkeln. "Wir hatten keine Ahnung, welchen Schatz wir heben würden", sagt Prof. Damian Dombrowski, Leiter der Neueren Abteilung des Museums. Die Ausstellung vermittle jede Menge neuer Erkenntnisse und zeige das Haus optimal als "forschendes Museum".
Allein zur "Ilias" hinterließ Martin von Wagner 900 Zeichnungen
Martin von Wagner schenkte der Universität 1857 seine bedeutende Kunstsammlung zum Dank dafür, dass er hier nie vertragsgemäß als Professor für Zeichenkunst antreten musste. Außerdem liegt sein gesamter schriftlicher Nachlass in Würzburg – 9000 Briefe und Manuskripte, 3300 Zeichnungen, darunter allein 900 zum Thema "Ilias". Es sind Kampfszenen, Begegnungen zwischen Menschen und Göttern aber auch schlichte Alltagsepisoden. Schließlich ist in der "Ilias" auch beschrieben, wie man damals Fleisch briet.
Die Kunsthistorikerin Carolin Goll, die die Ausstellung zusammen mit Dombrowski kuratiert hat, erforscht das gigantische Konvolut für ihre Promotion. Für die Ausstellung hat sie die Zeichnungen zur "Ilias" bearbeitet, hat Datierungen ebenso überprüft wie frühere Transkriptionen von Wagners Notizen und Bildbeschreibungen und hat schließlich die stilistische Entwicklung nachvollzogen - von anfangs noch plastisch gearbeiteten Motiven mit Schraffierungen und Lavierungen bis hin zu den reduzierten Umrisszeichnungen später, ganz im Sinne der klassizistischen Auffassung, dass antike griechische Kunst immer klar und aufgeräumt zu sein habe.

Erste Zeichnungen stammen noch aus der Zeit vor 1800, als Wagner in Wien studierte, die letzten entstanden wenige Jahre vor seinem Tod. "Er hat 50 Jahre kontinuierlich an diesem Thema gearbeitet", sagt Carolin Goll. "Ob er eine Veröffentlichung etwa in Form von Kupferstichen plante, wissen wir nicht. Viele Freunde drängten ihn, aber es ist nie dazu gekommen."
Von manchen Szenen gibt es Dutzende, immer wieder neu überarbeitete Versionen
Martin von Wagner galt und gilt als einer der besten Kenner der Antike im 19. Jahrhundert. Er las ungeheuer viel und bezog sein Bild- und Szenenrepertoire direkt aus den antiken Texten und Kunstwerken. In seinen Zeichnungen empfand er Haltungen, Bewegungen, Bekleidung oder Waffen nach, die er bei Statuen oder auf Vasen vorfand. Ausstellung und Katalog zeigen das mit vielen Beispielen und Querverweisen. Dazu haben die Kuratoren eine Reihe von Büsten und Bildnissen zusammengetragen, die Martin von Wagner in verschiedenen Lebensstadien zeigen - vom lächelnden Lockenkopf bis hin zum griesgrämigen Nestor, an dem in Rom niemand vorbei kam.
Seine Motive überarbeitete und optimierte er immer wieder, von manchen Szenen gibt es Dutzende Versionen. Auf einem Bildschirm wird in der Ausstellung im Zeitraffer vorgeführt, wie Wagner eine Episode allmählich zu seiner Zufriedenheit entwickelte.

Im Gegensatz zum Barock und dessen hochdramatischem Umgang mit antiken Motiven und auch im Gegensatz zur Romantik, die ihre Motive im Mittelalter oder in fernen Sehnsuchtsländern suchte, erfand Martin von Wagner – immer im Dienste seines wachsenden historischen beziehungsweise archäologischen Wissens – beharrlich auf kleinstem Raum die Antike neu, was der Ausstellung den Namen gab.

Wobei er in einem einzigen Fall das kleine Format radikal verließ: Das monumentale Ölgemälde "Der Rat der Griechen vor Troja" aus dem Bestand, entstanden 1807, kommt in der Ausstellung zu neuen Ehren. Die Kunsthistorikerin Maria Schabel hat es für ihre Masterarbeit erforscht und eine Fülle von inhaltlichen Feinheiten aufgespürt. "Ich habe lange mit diesem Bild gefremdelt, es kam mir wie ein Fremdkörper vor", sagt Dombrowski, "aber jetzt ist es mir richtig ans Herz gewachsen."
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