Der linke Fuß hält die Flasche, zwischen den Zehen des rechten klemmt der Verschluss. Eine kurze Drehbewegung, dann hebt Gabi Pluge die Wasserflasche auf den Tisch, schenkt ein und arbeitet weiter. Links führt sie die Maus, der große Zeh des anderen Fußes tippt die Tasten. „Ich kann vieles machen“, sagt sie. Flink, präzise und kraftvoll bewegen sich ihre Füße zwischen Telefon und Computer.
„Vieles geht gut, aber manches dauert halt ein bisschen länger oder ist ziemlich anstrengend“, sagt die 46-Jährige, deren Mutter in der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan eingenommen hatte. Die Anstrengung war Gabi Pluge bislang nie zu viel, sonst wäre sie nicht technische Zeichnerin beim Druckmaschinen-Hersteller Koenig & Bauer geworden. „Das Arbeitsamt hatte mir nur eine Stelle in einer Behindertenwerkstatt angeboten, um die Ausbildung zur technischen Zeichnerin habe ich mich selbst gekümmert.“
Seit 25 Jahren arbeitet Gabi Pluge sie mittlerweile bei Koenig & Bauer. Ihr Arbeitsplatz im Großraumbüro unterscheidet sich kaum von dem der Kollegen. Lediglich die Tastatur des Computers steht auf einer Bank unter dem Tisch. „Zum Einordnen von Papieren setze ich mich halt mit den Ordnern auf den Boden.“ Gabi Pluge fährt ein speziell umgebautes Auto und hat das Reiten gelernt.
Manches geht aber auch nicht. Knöpfe zumachen, Türen aufziehen oder alleine baden. „Vor einem Jahr konnte ich noch alleine aus der Badewanne steigen“, erzählt Gabi Pluge. Doch mittlerweile seien Wirbelsäule und Gelenke durch die extreme Belastung stark abgenutzt. „Ich werde immer steifer.“ Sie macht sich Sorgen, dass sie ihre bisherige Unabhängigkeit mehr und mehr verliert.
„Ich bin halt auf Leute angewiesen . . .“, schon jetzt fällt dieser Satz häufig, wenn die drahtige Frau erzählt, wie sie ihr Leben ohne Arme bewältigt. Die Kollegin zieht ihr den Reißverschluss zu, wenn sie auf der Toilette war. Ohne die Hilfe ihrer Mutter, kann sie keine Wäsche aufhängen. Im Stall in Großlangheim muss sie warten, bis jemand Zeit hat, ihr beim Satteln zur Hand zu gehen. „Den Karabinerhaken kann ich aber mit dem Fuß selbst ins Halfter einhängen, um mein Pferd in die Halle zu führen“, erzählt die 1,50 Meter große Frau. Auch beim Erzählen unterstützen sie die Füße: Während der rechte neben der Computer-Tastatur ruht, fliegt der linke hoch und setzt ein Ausrufezeichen hinter ihre Worte: „Mit etwas mehr Geld könnte ich mir vieles einfacher machen.“
Diese Antwort gibt Gabi Pluge auf die Frage, was sie über die aktuelle Forderung nach einer Erhöhung der Entschädigung von Contergan-Opfern durch die Pharmafirma Grünenthal denkt. Würde die souveräne Frau an dem geplanten Gespräch zwischen Contergan-Opfern und Grünenthal-Chef Sebastian Wirtz teilnehmen, wären ihre Worte vielleicht diese: „Ich finde nicht, dass Sie als Enkel des Firmengründers Schuld an meinem Schicksal haben. Aber ich denke, wenn Ihre Firma es sich leisten kann, den Opfern das Leben leichter zu machen, sollte sie das tun.“ Grünenthal hat 1971 100 Millionen Mark für die Entschädigung der rund 5000 Opfer gezahlt. Dieser Betrag ist mittlerweile aufgebraucht.
Leichter wäre es für Gabi Pluge, zum Beispiel wenn sie sich später eine Pflegekraft leisten könnte. Mit dem Pflegegeld das sie vom Staat bekommt, sei die nicht zu bezahlen. „Eine große Erleichterung, wäre auch der Wechsel in einen Reitstall, in dem ich nicht selbst Ausmisten muss.“ Auch das eine Frage des Geldes. Genauso wie ein für Behinderte zu bedienender Transporter. Damit könnten Reiterin und Pferd auch an speziellen Reitkursen in Norddeutschland teilnehmen, die es hier nicht gibt. „Das wäre ein Traum für mich.“
Viel Hoffnung hat sie aber nicht. „Das Interesse an den Contergan-Opfern wird nicht lange anhalten.“ Wie andere Themen werde auch dieses schnell aus den Medien verschwinden. Die bisherige Stellungnahmen der Firma gibt keinen Anlass für Optimismus. In der Diskussion, die der Film ausgelöst hat, äußerten die Grünenthal-Inhaber, die zu den reichsten Familien Deutschlands zählen, zwar Anteilnahme. Aber für finanzielle Entschädigung sei die Firma nicht mehr zuständig.
Daten & Fakten
Contergan Der Fernsehfilm „Contergan - Eine einzige Tablette“ hat eine Diskussion um weitere Hilfen für die Opfer entfacht. Contergan wurde Ende der 1950er Jahre als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Als Folge wurden 5000 Kinder mit schweren Fehlbildungen von Gliedmaßen und Organen geboren. 1961 zog das Pharma-Unternehmen Grünenthal Contergan aus dem Handel.