Am 26. September hat die Orestie im Großen Haus Premiere. Für Schneider ist der Text, geschrieben, vom Soldaten und Dichter Aischylos, „einer der wichtigsten, bedeutendsten und umfangreichsten des abendländischen Theaters“. Er spricht von der „wichtigsten Inszenierung des Theaters“.
Vater Agamemnon ermordet seine Tochter Iphigenie, damit ihm die Götter guten Wind für die Kriegsfahrt nach Troja schicken. Klytaimnestra, seine Gattin, bringt ihn und seine Geliebte dafür um. Elektra, weitere Tochter von Agamemnon und Klytaimnestra, wird wahnsinnig vor Rachlust. Ihr Bruder Orestes schlachtet die Mutter und ihren Liebhaber ab. Rachegöttinnen wollen Orestes in den Wahnsinn treiben. Hier bricht Aischylos mit dem Gesetz der Blutrache; soll ein Gericht die Schuldfrage klären. Orestes kommt frei, weil Athene, der Richterin mit der entscheidenden Stimme, ein Frauenleben weniger wert ist als ein Männerleben.
Die Tragödie ist ein Dreiteiler, drei Regisseure inszenieren sie: Stephan Suschke (er inszenierte „Ödipus, Tyrann“ am Mainfranken Theater), Schauspieldirektor Bernhard Stengele und Intendant Schneider. Eine Hauptrolle hat ein Sprechchor aus 70 Laien. Wer mitmachen wollte, macht mit, die Regisseure sortierten keinen aus. Aber Schneider kündigte ihnen beim ersten Treffen im Januar an, das Theater werde auf ihre Laienschaft keine Rücksicht nehmen. Sie würden so hart arbeiten, bis sie höchsten Ansprüchen genügen: „Von dem Moment, an dem sie mitmachen“, erklärte er den 50 Frauen und 20 Männern, „haben sie gar nichts mehr zu entscheiden.“
„Manchmal deprimiert mich die Auseinandersetzung mit der Orestie, weil sie die Welt, wie sie ist, widerspiegelt.“
Bernhard Stengele Schauspieldirektor
Da täuschte er sich. Schauspieldirektor Stengele berichtet, er habe mit den Chormitgliedern ebenso viel zu diskutieren wie mit den Berufsschauspielern. Besonders die Frauen rebellieren. Sie wollen nicht hinnehmen, das Klytaimnestra so schlecht wegkommt, Aischylos' Frauenbild ist für sie nicht akzeptabel. Der Widerspruch traf vor allem Schneider, in dessen Part die Gerichtsverhandlung fällt. Er versucht eine Lösung, mit der auch die Frauen leben können.
Anfang März begannen die Proben für den Chor, die Laien haben deutlich über 50 Termine im Kalender stehen; sie machen unentgeltlich mit. Selbst in den Theaterferien „probten sie freiwillig wie die Verrückten“, berichtet Stengele. Eine Dynamik habe sich eingestellt, in der er nicht mehr inszenieren müsse, weil der Chor reagiere wie ein lebendiges Wesen. Schneider erzählt, „die Leute gehen mit einer wunderbaren Einstellung an die Arbeit heran, aber auch mit Verwunderung und Entsetzen darüber, dass ein angeblich so kulturvoller Stoff so blutrünstig ist“.
Es geht um viel in der Orestie, auch um den Killer im Menschen. Stengele glaubt, unter bestimmten Voraussetzungen sei jeder Mensch zu Verbrechen fähig: Sein Beispiel: Jerusalem, die Stadt, in der Gläubige dreier Religionen den Gott Abrahams anbeten, „und trotzdem“, sagt er, „würden sie sich am liebsten die Köpfe einschlagen“. Manchmal deprimiere ihn die Auseinandersetzung mit der Orestie, „weil sie die Welt, wie sie ist, widerspiegelt“.
Stengele schrieb für Band 10 der Nachrichten aus dem Martin von Wagner-Museum einen leidenschaftlichen Aufsatz über die zentrale Frage der Orestie: Warum töten Menschen Menschen? Aischylos' Lösung befriedigt ihn nicht; er interpretiert sie als „Versuch, uns abzulenken, damit wir nicht verzweifeln. Aber wir wollen keine Beruhigung, wir suchen weiter“. Stengele beschreibt das als „den edlen Auftrag“ des Theaters, „damit wir nicht aufhören, die antwortlosen, bestürzenden Fragen nach dem (Un)Menschsein zu stellen“. Das sei der Grund, „warum wir öffentliche Gelder bekommen“.