Das Foto des toten Kindes am Strand einer türkischen Touristenhochburg lässt wohl die wenigsten Menschen kalt. Und obwohl seit Wochen tagtäglich über das Schicksal tausender Flüchtlinge berichtet wird, ist es genau dieses Bild eines einzelnen Kindes, das zum einen erschüttert, zum anderen für Diskussionen darüber sorgt, ob es überhaupt gezeigt, veröffentlicht, also ins Blickfeld gerückt werden sollte. Der Würzburger Professor Frank Schwab, Inhaber des Lehrstuhls für Medienpsychologie am Institut „Mensch-Computer-Medien“ der Universität Würzburg, erklärt, wie Bilder auf uns wirken – und was sie bewirken können.
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Frage: Wie war Ihre erste Reaktion auf dieses Foto?
Frank Schwab: Es tut erst mal körperlich weh. So geht es sicher vielen Menschen, aber vor allem Eltern. Ich bin selbst Vater von zwei Kindern, eines ist in dem Alter des toten Kindes auf dem Foto. Als Vater kann ich mich also nicht wehren gegen diese Emotion, dieses Wehtun. Kinder gehören zum höchsten Gut. Wir leben, um Kinder zu haben und das Leben weiterzugeben. Deshalb ist es schrecklich für uns, wenn kleine Kinder bei Konflikten, Krisen, Kriegen oder auf der Flucht sterben; das ist viel traumatischer, als wenn Erwachsene betroffen sind.
Warum reagieren wir auf Kinderschicksale emotionaler?
Schwab: Es ist das sogenannte Kindchenschema, der Körperbau, der sich natürlich von dem erwachsener Menschen unterscheidet – und der unsere Schutzinstinkte aktiviert. Hinzu kommt der Unschuldsaspekt, der in unserer Kultur vorherrscht, im Sinne von: Ein Kind kann ja nichts dafür. Es ist total unschuldig. Es hat doch Niemandem etwas zuleide getan. Bei Erwachsenen, vor allem bei Männern, kann man sich eher vorstellen, dass sie auch mal etwas Schlimmes getan haben, dass sie sich moralisch falsch verhalten haben könnten.
Würden Sie dieses Bild veröffentlichen?
Schwab: Als Medienpsychologe beschäftige ich mich mehr mit der Wirkung von Bildern und beschreibe, wie sie wirken – und nicht damit, wie man ethisch damit umgeht. Ich kann jedoch das journalistische Dilemma verstehen und bin der Meinung, dass man keine Bildvariante veröffentlichen sollte, die die Würde des Kindes verletzt. Aber sensationsheischend ist dieses Foto sicher nicht. Allerdings sollte das Gesicht nicht erkennbar sein. Zudem sollte das Bild erklärt werden. Der Text zum Bild ist wichtig. Und ich würde das Foto nicht in allen Mediensparten zeigen, zum Beispiel nicht bei Kindernachrichten.
Von der Wirkungsseite her sage ich: Die Betrachter des Bildes werden wach gerüttelt, zum Nachdenken angeregt, und dazu, ihren Standpunkt zur Flüchtlingsfrage zu reflektieren.
Hat diese Wirkung auch etwas damit zu tun, weil hier ein Kinderschicksal zu sehen ist, das aus der Masse der vielen Flüchtlingsschicksale herausgehoben ist?
Schwab: Wir sind über die Jahrtausende hinweg auf die kleine Dorfgemeinschaft als Bezugsgruppe orientiert und deshalb nicht darauf vorbereitet, in großen Zahlen mit menschlichen Schicksalen umzugehen. Wir denken eher in Familienverbänden. Das kann unser Gehirn ganz gut. Durch die Medien wird die Welt zwar zum elektronischen Dorf, aber mit weit mehr als 50 oder 100 Mitgliedern. Sobald wir mit Ereignissen konfrontiert werden, die mehrere hundert oder tausend Menschen betreffen, wird es emotional schwierig für uns. Diese Schicksale gehen uns nicht in der gleichen Art nahe wie ein einzelnes. Wir sehen meist darüber hinweg und denken: Das ist weit weg, das geht uns nichts an. Aber bei dem Bild des toten Kindes ist diese Distanz kaum mehr möglich.
Der Münchner Medienethiker Alexander Filipovic sieht die Veröffentlichung des Bildes eher kritisch. Er meint, dass es viele Menschen überfordere.
Schwab: Sicher kann dieses Bild auf Menschen nicht nur schmerzhaft, aufrüttelnd, sondern auch verletzend wirken. Wenn jemand sehr empfindsam ist, dann wird er dieses Bild nur schwer verarbeiten können. Aber Überfordern im Sinne von Traumatisieren wird dieses Bild eher nicht. Ansonsten dürfte man gar keine Nachrichten mehr zeigen. Und es gibt meiner Meinung nach Gruppen, die dieses Bild unbedingt sehen sollten: Ich meine Menschen mit rechtsradikalen Ansichten, die Flüchtlinge anfeinden oder sogar Notunterkünfte anzünden. Sie können eigentlich nur dann unempathisch mit diesem Bild umgehen, wenn sie Mitmenschliches ausblenden und in ihrem Inneren abwehren: dass es sich um das Leid eines kleinen unschuldigen Flüchtlingskindes handelt.
Medienethiker Filipovic meint auch, dass das Bild nicht unbedingt zum Handeln motiviere, sondern den Betrachter vielmehr lähme.
Schwab: Mehrere Reaktionen sind möglich: Manche Betrachter reagieren mit Entsetzen. Das ist eine Emotion, bei der man sagt: Halt, da muss ich mich abwenden, mental flüchten. Eine andere Reaktion ist Trauer. Dann sind wir eher gelähmt, kommen ins Grübeln und denken nach, ob die Politik oder wir selbst überhaupt etwas für die Flüchtlinge tun. Andere reagieren mit Ärger. Diese Emotion ist die wünschenswerteste, weil Ärger die Handlungsmacht wieder herstellt. Wenn ich in der Trauer verharre, bleibe ich ja häufig ohnmächtig, weil ich denke, ich kann ja eh nichts dran ändern. Bei Ärger aber fühlt man, dass man eigentlich etwas dagegen tun muss. Dies kann dann zu politischen Veränderungen führen. Emotionen sind also nicht schlecht an sich, denn sie können durchaus vernünftige Prozesse anregen.
Es gibt Bilder, die gelten als Ikonen, etwa das Foto des nackten vietnamesischen Mädchens aus dem Jahr 1972, das vor Napalmbomben flieht. Es gehört zum kollektiven Gedächtnis und wurde zum Symbol für den Vietnamkrieg.
Schwab: Das Foto des toten Kindes gehört sicher zu denen, die in diese Richtung gehen, die großen Einfluss ausüben können. Das Vietnam-Bild hat ja die politische Haltung einer ganzen Nation verändert.
Die Fotografin
Nilüfer Demir von der türkischen Nachrichtenagentur DHA hat die Bilder von dem syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi gemacht, dessen Leiche an den Strand von Bodrum gespült wurde. In einem DHA-Video erzählt sie, was bei ihr in dem Moment vor sich ging:
„Als ich den dreijährigen Aylan Kurdi gesehen habe, gefror mir wirklich das Blut in den Adern. In dem Moment war nichts mehr zu machen. Er lag mit seinem roten T-Shirt und seinen blauen Shorts, halb bis zum Bauch hochgerutscht, leblos am Boden. Ich konnte nichts für ihn tun. Das einzige, was ich tun konnte, war, seinem Schrei – dem Schrei seines am Boden liegenden Körpers – Gehör zu verschaffen. Ich dachte, das könnte ich nur schaffen, indem ich den Abzug betätigte.
Und in diesem Moment habe ich das Foto geschossen. Hundert Meter weiter lag sein Bruder Galip am Boden. Bei keinem von beiden konnte man Schwimmwesten, Schwimmflügel oder etwas, was sie über Wasser hätte halten können, vorfinden.“