Noch nie zuvor war die rechtsextreme Partei des Front National (FN) in Frankreich so erfolgreich: Am Sonntag triumphierte der FN um Parteichefin Marine Le Pen im ersten Durchgang der Regionalwahlen. Etwa jeder dritte französische Wähler – fast 30 Prozent landesweit – schenkte ihr seine Stimme. Die Partei liegt nun in sechs von 13 Regionen vorn. Politikwissenschaftlerin Tanja Wolf von der Universität Würzburg erklärt, warum der FN gerade jetzt so erfolgreich ist und welche Folgen das für Europa hat.
Frage: Drei Wochen nach den Terroranschlägen von Paris triumphieren die Rechtsextremen in Frankreich. War das Ergebnis der Wahl absehbar?
Tanja Wolf: Ja. Die Anschläge haben sicherlich massiv zum Wahlergebnis beigetragen. Die aktuell regierenden Parteien konnten die Pariser Bevölkerung vor dem Terror nicht beschützen. Daher zweifeln die französischen Wähler ebendiese Parteien an.
Das heißt, hätten Terrorakte in Deutschland stattgefunden, würde hierzulande die AfD triumphieren?
Wolf: Die Situation in Frankreich ist nicht mit der Situation in Deutschland vergleichbar – auch wenn die Prognosen der AfD bei der Sonntagsfrage momentan gut aussehen. Die Pariser Attentate reichen nicht aus, um den Sieg der Rechtsextremen in Frankreich zu erklären.
Sondern?
Wolf:
Der Front National ist in der französischen Bevölkerung stark verankert. Sein Erfolg hat sich seit Jahren abgezeichnet. Eine Erklärung liegt im Vater-Tochter-Verhältnis von Parteichefin Marine Le Pen. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, hat die rechtsextreme Partei 1972 gegründet. 39 Jahre lang war er Parteichef. Unter seiner Führung zog der FN den klassischen rechten Wähler an: sehr jung oder sehr alt und meist wenig gebildet. Mit antisemitischen Äußerungen und verbalen Ausrutschern – zum Beispiel: der Holocaust sei nur ein „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ – hat Jean-Marie Le Pen viele Franzosen abgeschreckt.
Das ist nun anders bei seiner Tochter Marine Le Pen?
Wolf: Mittlerweile ist die Strategie des Front National eine völlig andere. Seit die jüngste Tochter von Jean-Marie Le Pen 2011 an die Spitze der Partei trat, geht es mit den Rechtsextremen bergauf. Marine Le Pen gibt sich bürgernah und macht das sehr geschickt. Da sich ihr Vater auch weiterhin politisch betätigte und gegen ihr Konzept arbeitete, wurde er im Frühjahr nach einem großen Disput offiziell aus der Partei ausgeschlossen. Marine Le Pen gibt ihrer Partei einen gemäßigten familienfreundlichen Anstrich. Sie wirkt nicht so abschreckend wie ihr Vater. Ihre Äußerungen wählt sie mit Bedacht. Und ihre Strategie geht auf: Die Wähler des Front National sind mittlerweile in allen gesellschaftlichen Schichten anzutreffen.
Ist die Partei damit harmloser einzustufen als unter der Führung von Jean-Marie Le Pen?
Wolf: Nein. Der Front National bleibt ausländerfeindlich, islamfeindlich und auch EU-feindlich. Die Rechtsextremen punkten mit den Themen innere Sicherheit, Arbeitsplätze und Sozialleistungen für die heimische Bevölkerung, nicht aber für Migranten. Insbesondere jetzt, da viele Flüchtlinge nach Europa kommen und viele Menschen verunsichert sind, profitieren die Rechtsextremen von der allgemeinen Stimmung. Sie wollen der EU weniger Einfluss geben und Frankreich als Nation stärken. Sie setzen damit ein negatives Zeichen gegen Menschenrechte und die Gleichheit aller Menschen.
Welche Folgen hat dies für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in Europa?
Wolf: Frankreich ist nicht das erste Land in der EU, das nach rechts rückt. Dennoch: Wenn der Front National auch im zweiten und entscheidenden Wahlgang der Regionalwahlen in einer Woche triumphiert, wird eine gemeinsame europäische Linie in der Flüchtlingspolitik immer schwieriger. Frankreich wird künftig nicht mehr so gewillt sein, Flüchtlinge aufzunehmen, da man Angst hat, weitere Wähler an den Front National zu verlieren. Das ist nicht gerade förderlich in der Flüchtlingsdebatte. Die Verunsicherung in der Europäischen Union wird wachsen.
Der Front National hat im ersten Durchgang der Regionalwahlen in Frankreich für ein politisches Erdbeben gesorgt. Zwischen welchen Parteien findet nächsten Sonntag das Rennen um die Wählergunst statt?
Wolf: Die Regionalwahlen werden kommende Woche zwischen den Sozialisten, den Konservativen und den Rechtsextremen des Front National entschieden.
Könnten die Franzosen das Ruder noch herumreißen?
Wolf: Die einzige Möglichkeit, das politische Ruder noch herumzureißen wäre, wenn sich die Konservativen mit den Sozialisten zusammentäten. Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Nicolas Sarkozy, Vorsitzender der Republikaner, hat am Wahlabend bereits jegliche Wahlabsprache mit den Sozialisten ausgeschlossen.
Wieso entscheiden sich viele Wähler in Frankreich nicht für die konservative, sondern für die rechtsextreme Partei?
Wolf: Nicolas Sarkozy hat in der Vergangenheit versucht, den Front National rechts zu überholen. Zum Beispiel stammt die Äußerung „Frankreich habe unter Führung der etablierten Parteien Jahrzehnte der Feigheit erlebt“ von ihm. Doch da er selbst von 2007 bis 2012 als französischer Staatspräsident das Land regiert hat, sind derartige Aussagen wenig glaubhaft. Wirtschaftlich steht das Land nicht unbedingt gut da.
Falls sich der Front National kommende Woche durchsetzt, was bedeutet das für die Zukunft?
Wolf: Die Regionalwahlen sind ein starker Indikator für die Präsidentschaftswahl 2017.
Heißt das, im schlimmsten Fall würde Marine Le Pen die nächste Präsidentin Frankreichs werden und Frankreich würde aus der EU austreten?
Wolf: Nein. Selbst wenn wir vom Schlimmsten ausgehen und Marine Le Pen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2017 einen Großteil der Stimmen holen würde – allerspätestens dann würden sich alle anderen Parteien zusammenschließen. So lief es auch 2002, als ihr Vater den Einzug in die Stichwahlen gegen Jacques Chirac schaffte. Marine Le Pen als Präsidentin ist undenkbar.
Zur Person:

Die Politikwissenschaftlerin promoviert am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre der Universität Würzburg. Ihr Thema: Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Europa. Neben diversen Interviews für den Deutschlandfunk und das Bayerische Fernsehen hat sie unter anderem einen Beitrag für das Buch „Parteien, Protest und Populismus. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2014“ geschrieben, das beim Stuttgarter ibidem-Verlag erschienen ist.