Nicht nur der Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine recherchiert über die Opfer des nationalsozialistischen Krankenmords. Dr. Karen Nolte vom Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg beschäftigt sich mit Patientendaten aus den Aufnahmebüchern der Nervenklinik. Geplant ist ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Würzburger Psychiatrie von 1893 bis 1945. Erste Analysen der Privatdozentin geben Einblicke in die Situation während der Zeit des Nationalsozialismus. „Für bislang elf Patienten und Patientinnen konnte ich durch Anfragen bei den Gedenkstätten beziehungsweise durch eine Abfrage der Datenbank der Opfer der Aktion T4 des Bundesarchivs sicher feststellen, dass sie in einer Tötungsanstalt ermordet worden sind.“
Karen Nolte hat mit der statistischen Erfassung der Patientenschaft begonnen und bislang Krankenakten der Universitätsnervenklinik aus dem Universitätsarchiv Würzburg von drei männlichen und acht weiblichen Opfern der NS-„Euthanasie“ im Detail analysiert; zehn dieser ehemaligen Würzburger Patienten seien zunächst von der Nervenklinik (heute Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Würzburg) in die Heil- und Pflegeanstalt im Schloss Werneck verlegt und schließlich in die Tötungsanstalt Sonnenstein in Pirna gebracht und dort ermordet worden. „Ein jugendlicher Patient durfte 1938 mit seinen Eltern nach Hause gehen, wurde jedoch wenig später wieder zu einer zwangsweisen Sterilisation in die Klinik eingewiesen.“ Danach sei sein Weg über die Heil- und Pflegeanstalten im oberpfälzischen Reichenbach und im niederbayerischen Mainkofen in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz verlaufen, wo er im Alter von 19 Jahren ermordet wurde, so Nolte.
Ihre Forschungen beziehen sich nicht nur auf die Biografie, sondern vor allem auf die Krankengeschichte, Aufenthaltsdauer, Therapie und darauf, wann ein Patient oder eine Patientin zur Tötung „freigegeben“ wurde. „Die Auswertung der Patientendaten der Frauen in den Aufnahmebüchern von 1937 zeigt, dass Schizophrenie rund ein Viertel der in der Würzburger Klinik vergebenen Diagnosen ausmachte, bei den Männern machte diese Diagnose hingegen im gleichen Zeitraum nur 6,2 Prozent aus.“ An zweiter Stelle folgte bei den weiblichen wie männlichen Patienten die Diagnose Psychopathie mit 13,4 beziehungsweise 10,4 Prozent. An dritter Stelle lagen bei den Frauen manisch-depressive Erkrankungen mit 3,5 Prozent, bei den Männern kam diese Diagnose nicht vor.
Darüber hinaus stellte Karen Nolte fest, dass die durchschnittliche Verweildauer sich 1937 im Vergleich zu 1931 deutlich verringerte – bei Frauen zum Beispiel von rund 58 auf 38 Tage. Grund waren laut Nolte „rasant“ angestiegene Aufnahmezahlen. Allerdings seien auch nichtmedizinische Faktoren für die Verweildauer ausschlaggebend gewesen. Ein Beispiel: Heidemarie Müller (Name geändert) kam Ende der 1920er Jahre wegen Suizidgedanken und der Diagnose „manisch-depressiv“ in die Würzburger Nervenklinik. Sie wurde mit Arbeitstherapie und Beruhigungsmitteln behandelt. „Heidemarie Müller machte sich auf der Station unentbehrlich, in dem sie stets freundlich den Schwestern half, die anderen Kranken zu betten und zu füttern“, erläutert Karen Nolte. Da sich ihr Zustand nicht gebessert habe, sei sie als „beschränkt arbeitsfähig“ nach Werneck verlegt und 1940 in Pirna-Sonnenstein ermordet worden. „Die Patientin wurde wohl auch deshalb so überdurchschnittlich lang in der Klinik behalten, da sie die Pflegenden auf Station erheblich entlastete“, vermutet Nolte.
Bereits in der Weimarer Zeit hat sich der Fokus vom therapeutischen zum ökonomischen Zweck hin verschoben. „Patientin, die nicht mehr arbeiten konnten, wurden zunehmend als ,Ballast‘ empfunden“, erläutert Karen Nolte. Die NS-Ideologie übernahm die 1920 von dem Rechtswissenschaftler Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche geprägten Begriffe „lebensunwertes Leben“ und „Ballastexistenz“ – ab 1940 mit tödlichen Folgen für die Patienten. Die NS-Propaganda bediente sich anschaulicher Illustrationen, um die Botschaft im Bewusstsein der Menschen zu verankern. So ist auf einem Plakat ein Mann zu sehen, der zwei Männer schultert. Darüber steht: „Hier trägst Du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50 000 Reichsmark.“ Dass „Erbkranke“ gezielt getötet wurden, sollte jedoch nicht bekannt werden.