Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Würzburg
Icon Pfeil nach unten
Stadt Würzburg
Icon Pfeil nach unten

Würzburg: Happy Birthday und Hatschi! Das Tempo wird 90

Würzburg

Happy Birthday und Hatschi! Das Tempo wird 90

    • |
    • |
    Schnupfen? Tempo. Seit 90 Jahren wird in Papiertaschentücher geschnäuzt.
    Schnupfen? Tempo. Seit 90 Jahren wird in Papiertaschentücher geschnäuzt. Foto: Uwe Anspach, dpa

    Jetzt, jetzt ist wieder Hochsaison. Die Nasen laufen, die Nasen tropfen und verstopfen, die Menschen niesen. Leise und laut. Schnupfenzeit. Erst schnieft man ein bisschen, zieht die Nase hoch. Dann muss man sich schnäuzen, ganz dringend. Hat wer – Ha-ha-haaatschi! – ein Tempo, bitte? Zum Glück hat irgendwie immer irgendwer eins zur Hand. Und wenn kein Tempo . . . dann – „Gesundheit“ – wenigstens ein anderes Papiertaschentuch.

    Zufall, dass das Tempo mitten im Winter 90 Jahre alt wird? Dass das Warenzeichen just in der Erkältungszeit beim Reichspatentamt in Berlin angemeldet wurde? Am 29. Januar 1929 reichte Oskar Rosenfelder, der Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Nürnberg, den Antrag für das erste deutsche Papiertaschentuch ein. Eingetragen wurde das Warenzeichen am 18. September 1929, veröffentlicht und bekannt gegeben schließlich im Warenzeichenblatt vom 15. Oktober desselben Jahres. Die Warenzeichennummer: 407752.

    Weg mit dem Stoff, her mit dem Papier

    Eine geniale Geschäftsidee. Das Tempo bestand aus nichts als Papier. In Heroldsberg bei Nürnberg, im Stammwerk der Vereinigten Papierwerke, die zu 100 Prozent in Händen jüdischer Aktionäre waren, hatte man schon vor 1929 Hygieneartikel hergestellt. Und Oskar Rosenfelder kam auf die Idee: fürs Schnäuzen statt Stoffserviette ein Einwegtaschentuch zu benutzen.

    Mit dem Namen für seine Erfindung hätte der Unternehmer Ende der 1920er Jahre den Nerv der Zeit nicht besser treffen können. Tempo! Zwei Jahrzehnte zuvor, 1909, hatte der italienische Futurismus in seinem Manifest die „Schönheit der Geschwindigkeit“ beschworen. Die Moderne raste, in der Weimarer Republik wurde Berlin zur Stadt der Beschleunigung. Alles rastlos, ruhelos, alles in Bewegung. Der Nachfrage nach dem Einwegtaschentuch mit dem Namen, der so sehr den Geist der Zeit widerspiegelte, kam die Produktionstechnik kaum nach.

    Bis 1933 wurde das Taschentuch erst in Heimarbeit, später von Wohlfahrtswerkstätten in Nürnberg gefaltet. Dank immer modernerer Fertigungsmaschinen konnten die Vereinigten Papierwerke die Produktion auf 150 Millionen Stück im Jahr 1935 steigern. Die Brüder Oskar und Emil Rosenfelder allerdings, die gut die Hälfte der Aktien besessen hatten, waren da schon vor den Nazis nach England emigriert – und enteignet.

    Der Erfinder: vertrieben und enteignet

    Bei diesem Entrechtungsprozess arbeiteten Justiz, Wirtschaft und die Deutsche Bank Hand in Hand. Die Rosenfelders hatten versucht, durch eine Firmengründung in England die Besitz- und Verfügungsrechte des deutschen Unternehmens dorthin zu übertragen. Doch die Staatsanwaltschaft Nürnberg eröffnete ein Verfahren wegen Devisenvergehen und beantragte die Beschlagnahmung des inländischen Vermögens. Die Deutsche Bank, die den Brüdern noch kurz zuvor ein Darlehen gewährt hatte, suchte einen Käufer für das Aktienpaket, das als Sicherheit hinterlegt worden war. Der Fürther Unternehmer Gustav Schickedanz, Gründer des Versandhauses Quelle, kaufte die Aktien 1934, ein Jahr später erwarb er die restlichen Anteile am Unternehmen. Und sicherte sich damit die Markenrechte an „Tempo“.

    Das Papiertuch steckte seither in mehr und mehr Taschen. 1939 lag der Absatz verkaufter Exemplare bei 400 Millionen, 1955 waren es schon eine Milliarde. Und 2004, zum 75. Geburtstag, waren 20 Milliarden erreicht. Nur passen inzwischen weniger Tücher in eine Packung. 20 Stück waren es am Anfang. Heute sind es – weil die Tempos vierlagig wurden – noch zehn. Haa-ha-hatschi. Schnäuzen, die Nase hochziehen oder Wasser und Schleim sonstwie loswerden? Das Taschentuch ist auch eine Kulturfrage. In Ostasien ist das Hochziehen üblich und höflich. Dort in Gesellschaft in ein Taschentuch zu prusten, womöglich im Restaurant? Es wäre taktlos. Ein Tabu.

    Anders gefaltet, wiederverschließbar verpackt - und manchmal mit Duft 

    Beim „Tempo“ wechselten Packungsgrößen und Verschlüsse, Innovationen kamen dazu. Tempo erfand die „Z-Faltung“, dank der man seit 1975 die Tücher mit einer Hand auseinanderschütteln kann. 1988 kam, die wiederverschließbare Packung, in den 90er Jahren irgendwann die Tempo-, also Taschentuchbox. Und zwischendurch diverse Balsam- und Ölvarianten. Und falls heute mal ein Tempo in der Waschmaschine landet, gibt's keine Flusen mehr. Man fischt hinterher einen unförmigen kleinen Klumpen aus der Hosentasche.

    Wie sich die Verpackung der "Tempo"-Taschentücher seit 1929 (links oben) wandelte . . .  
    Wie sich die Verpackung der "Tempo"-Taschentücher seit 1929 (links oben) wandelte . . .   Foto: dpa

    Nur der markante weiße, geschwungene Schriftzug auf dunkelblauem Grund wurde in den 1950er Jahren ein letztes Mal verändert – und blieb, trotz Eigentümer- und Herstellerwechseln. Schickedanz verkaufte an Procter und Gamble, der stieß es an den schwedischen Holzkonzern SCA ab, der schon Konkurrenzmarken produzierte.

    Aber Tempo blieb Taschentuch. Und Taschentuch blieb Tempo. Das Produkt aus den Nürnberger Vereinigten Papierwerken schaffte, was nur wenigen Produkten gelingt: zu einem Deonym werden, ein Namensgeber, dessen Markenname zur allgemeinen Bezeichnung einer ganzen Warengattung wird und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergeht. So wie Tesa, Uhu, Knirps oder Tupperdose. Wie Labello oder Walkman. Alles Produkte, die neu erfunden worden waren – oder den Markt in ihrem Segment dominieren. Fünf Jahre vor Tempo war das auch dem amerikanischer Vorläufer gelungen: Kleenex.

    Markennamen, die sich selbständig machten

    Generische Verselbstständigung heißt das Phänomen, das ganz schnell gehen kann – wie bei Google. Für eine Marke kann die Bekanntheit ein Segen sein – und Fluch. Blöd wird es, wenn der Hersteller viel Geld in seine Marke investiert hat – und der Kunde zwar die Marke meint, aber zur Konkurrenz greift. Und nicht immer gelingt das „Dehnen“, also auch andere Produkte unter dem bekannten Namen zu verkaufen. Nivea schaffte das – unter dem geschützten Namen, der Synonym für die Creme ist, vertreibt Beiersdorf heute Reinigungs- und Pflegeprodukte für den ganzen Körper.

    Tempo? Immer noch Taschentuch.

    Das Tempo aber? Seit 90 Jahren mit Schnupfen verbunden. Irgendwann wurde mal ausgerechnet, dass jeder Mensch zwei bis drei Jahre seines Lebens mit laufender Nase herumläuft – und jeder Deutsche pro Jahr 55 Päckchen verbraucht. Was Hygieneargumente betrifft, schlägt die Papier- die Stoffvariante – allerdings nur, wenn man das Tempo nach Benutzung schnell sachgemäß entsorgt.

    Und dann ist da noch die Romantik, die mit dem Tempo flöten ging. Einst war das kunstvoll bestickte, mit Monogramm versehene Schnupftuch der Damen und Herren ein Signalfähnchen, mit dem man sich in Gesellschaft galant Zeichen gab . . . Doch wer würde sich nach einem absichtlich, unabsichtlich fallengelassenen Papiertaschentuch bücken?

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden