Die Krankheit ADHS gehört in der Wichern-Schule des Diakonischen Werks zum Alltag. „Etwa jeder dritte unserer 110 Schüler hat das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom“, sagt der stellvertretende Schulleiter Wolfgang Beckmann. Der 13-jährige Tom (Name geändert) ist einer davon. Mit massiven Verhaltensproblemen kam er 2011 in die Private Schule für Kranke. Dem Schulkonzept hat er es zu verdanken, dass es ihm heute sehr viel besser geht, heißt es in einer Pressemitteilung der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe.
Tom war einer, der nie einstecken konnte. Er wollte immer bestimmen. „Schon im Kindergarten war er auffällig“, erläutert Beckmann. Auch in der ersten Klasse der Grundschule brachte Tom seine Lehrerin zur Verzweiflung. Nach dem ersten Schuljahr kam er auf eine Schule für Kinder mit emotionalen und erzieherischen Schwierigkeiten.
„Wegen der anfangs sehr geringen Konzentrationsspanne brauchen solche Schüler neben klaren Strukturen viele kleine Pausen.“
Wolfgang Beckmann, Vize-Chef der Wichern-Schule
Zunächst mit Erfolg: „Doch dann sackten seine Noten ab, im Sozialverhalten erhielt er eine Fünf.“ Immer häufiger nahm Tom nicht am Unterricht teil. Er verweigerte sich. Im August 2011 kam er in eine Wohngruppe der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe (EKFJH) und gleichzeitig in die dort etablierte Schule für Kranke.
Hier hat man viel Erfahrung mit Kindern, die stets lautstark ihre Positionen vertreten, rasch andere Menschen beleidigen, hyperaktiv sind und ihre Umgebung permanent stressen. Wegen erheblicher weiterer Probleme entschied das Team, Tom nach Finnland zu geben, wo die EKJFH seit Jahren laut Pressemitteilung sehr erfolgreich das Projekt „Erleben, Arbeiten und Lernen“ für pädagogisch herausfordernde Kinder betreibt.
Bis September 2012 ging Tom in Finnland zur Schule. Das Unterrichtskonzept ist Beckmann zufolge in höchstem Maße individuell: „Wegen der anfangs sehr geringen Konzentrationsspanne brauchen solche Schüler neben klaren Strukturen viele kleine Pausen.“
Um Kinder zu motivieren, wird außerdem an deren Stärken angesetzt. Diese Stärken, betont Beckmann, geraten angesichts der immensen Problematik der Jungen und Mädchen nur allzu leicht aus dem Blick. Tom zum Beispiel kann sich sehr gut ausdrücken. Und er ist ein überaus sportlicher Junge. In Finnland durfte er seine Talente ausgiebig ausleben.
Dass ihre Schüler meist nicht sehr umgänglich sind, das sind die 35 Lehrer, Sonderpädagogen, Diplom-Pädagogen und Studierenden, die in der Wichern-Schule unterrichten und fördern, gewohnt. Hier weiß man gut mit Störungen umzugehen. Ein Prinzip lautet, so Beckmann, dass Kinder, die „nerven“ niemals persönlich abgekanzelt werden. Es heißt also nie: „Du bist unmöglich!“ Denn das würde die Person treffen. Sondern: „Du störst.“ Damit können Schüler wie Tom viel besser umgehen. Denn Abkanzeln, Spott und Kritik sind sie zur Genüge gewohnt.
Dass Tom nur mit drei anderen Kindern in einer Gruppe unterrichtet wird, auch das kommt ihm zugute. Dennoch ist es nach wie vor schwierig für ihn und seine Lehrer, mit seiner massiv ausgeprägten Erkrankung ADHS klarzukommen. Neben dem stark strukturierten Unterricht, konstanten Lehrkräften und viel Zuwendung helfen Tom auch die speziellen Medikamente, sich besser und länger zu konzentrieren. Bei der alle drei Monate statt findenden ärztlichen Überprüfung helfen auch die Rückmeldungen der Lehrkräfte, die Wirksamkeit zu prüfen.
Augenblicklich geht es dem Jungen gut – vor allem im Vergleich zu früher. „Durch diese Krankheit geraten die Kinder leicht in einen Teufelskreis“, betont Beckmann. Hinzu kommt, dass die Kinder aggressiv und dominant nach außen auftreten. Durch die Reaktionen ihres Umfeldes wiederum eignen sie sich ein falsches Verhalten an – Aggressivität wird zu etwas Normalen.
Als Experten für verhaltensschwierige Schüler helfen die Lehrkräfte der Wichern-Schule den Kindern, schädliches Betragen allmählich wieder zu verlernen und sich konstruktive Umgangsweisen mit sich selbst und anderen anzueignen. Was in Toms Fall laut Beckmann sichtbar Früchte getragen hat: „So dass wir nach den Pfingstferien mit dem Jungen einen Schulversuch an der zuständigen Sprengelschule wagen.“ Geht alles gut, wird Tom die zweite Hälfte dieses Schuljahres in einer Mittelschule verbringen.