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WÜRZBURG: Journalist Wolfgang Jung lädt zur Stadtführung: „Vom schönen Schein und bösen Sein“ Würzburgs

WÜRZBURG

Journalist Wolfgang Jung lädt zur Stadtführung: „Vom schönen Schein und bösen Sein“ Würzburgs

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    Ausgangspunkt Residenz: Wolfgang Jung (links) will in seinen Führungen das Geschichtsbild Würzburgs komplettieren – und rückt dabei vor allem das Schicksal der kleinen Leute in den Mittelpunkt.
    Ausgangspunkt Residenz: Wolfgang Jung (links) will in seinen Führungen das Geschichtsbild Würzburgs komplettieren – und rückt dabei vor allem das Schicksal der kleinen Leute in den Mittelpunkt. Foto: Foto: Thomas Obermeier

    Würzburg ist ein Touristenmagnet. Die Stadt des Weins, der Kirchen, des Weltkulturerbes. In gewöhnlichen Stadtführungen erfahren Besucher von ihrer Schönheit, vom stolzen Erbe. Würzburg ist aber auch eine Stadt der Widersprüche. Wer sie ergründen will, sollte sich an die Fersen von Wolfgang Jung heften. Der Main-Post-Journalist lädt seit wenigen Wochen jeden Donnerstagabend zu einer Führung der besonderen Art ein. Titel: „Der schöne Schein und das böse Sein einer alten Stadt.“ Es sind zehn Stationen des Staunens.

    „Schreiben, was ist.“ So hat Spiegel-Gründer Rudolf Augstein einmal sein Selbstverständnis von Journalismus formuliert. Wolfgang Jung versteht Wahrhaftigkeit als Lebensmaxime, und sie gilt nicht nur fürs Schreiben. Erzählen, was ist – das bedeutet für ihn Entschönigen, wo beschönigt wird. Enttabuisieren, wo tabuisiert wird. Der 50-Jährige ist bekannt dafür, seinen eigenen Pfad zu gehen – emotional, querdenkend und mit klaren Worten. Für seine Heimatstadt Würzburg ist er Feuer und Flamme. Gerade deshalb nerven ihn Zerrbilder.

    „Die ungeschminkte Stadt ist viel wilder und rauer als das sonntägliche Postkarten-Würzburg.“

    Wolfgang Jung über seine Erfahrungen bei der Recherche

    Man könnte seine wöchentliche Führung „alternativ“ nennen – und Jung womöglich auf die Palme bringen. Hieße es doch, an gängiger Verklärung und Geschichtsklitterung nicht zu rühren und parallel dazu eine Nische für die „Ungläubigen“ aufzumachen. Genau das will der profunde Stadtkenner nicht. Stattdessen möchte Jung beitragen, das Geschichtsbild Würzburgs zu komplettieren, zu korrigieren und – wo nötig – zurechtzurasieren. Bei seinen Recherchen für zahlreiche Artikel über das historische Würzburg ist er auf „schmutzige Geschichten hinter schönen Fassaden“ gestoßen, wie er selbst sagt. Die ungeschminkte Stadt sei „viel wilder und rauer als das sonntägliche Postkarten-Würzburg, und viel spannender und bunter!“

    Begeben wir uns zur Fürstbischöflichen Residenz, zum Weltkulturerbe, wo Wolfgang Jung am Frankonia-Brunnen jeden Donnerstag um 19.30 Uhr seine Führung beginnt. Eine Gruppe von 30 Leuten schart sich diesmal um den Journalisten, dem es neben sprachlicher auch an körperlicher Wucht nicht mangelt. Es sind etliche Würzburger darunter, neugierig auf diese ungewohnte Perspektive ihrer Heimatstadt.

    Jung, der Schreiber, braucht in der Rolle des Sprechers noch Stützen: Er trägt eine Mappe mit Bildern zum Vorzeigen unterm Arm und Textkärtchen, um nichts Wichtiges zu vergessen. In den ersten Führungen war er noch allzu dozierend unterwegs, das schaffte eine gewisse Distanz. Zwischenzeitlich ist er sicherer geworden, liest nur noch kurze Zitate vor. Dass er noch nicht die Routine und Souveränität langjähriger Stadtführer hat – die Teilnehmer verzeihen es ihm. Dafür, so wird sich später eine Frau verabschieden, „habe ich vieles erfahren, was ich so noch gar nicht wusste.“

    Dicht gestopfte, sozialgeschichtliche Infokisten packt Jung aus. Zu Glanz und Gloria der Großen serviert er das Los der kleinen Leute, der Verfolgten und Betrogenen. 1,4 Millionen Gulden hat der Bau der Residenz (1720-1744) gekostet. Deckenmaler Tiepolo kassierte allein 15 000 Gulden für seine Arbeit und 2000 für seine Anreise aus Italien. Und eine Magd? Wurde mit monatlich einem einzigen Gulden abgespeist. Adel und Klerus, die den Zehnten ihrer Untertan behielten – Jung beschreibt sie als eine „biblische Plage“. Die fürstbischöfliche Pracht hatte einen hohen Preis. Zahlen musste ihn das gemeine Volk.

    Jung will aufklären – und schon auf dem Weg zum Paradeplatz wird munter diskutiert. Dort steht, öffentlich kaum wahrgenommen, das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Sinti und Roma. Sie gaben den Stoff für populäre Kompositionen wie die Oper Carmen oder die Strauß-Operette „Der Zigeunerbaron“. Dass diese ausgerechnet 1938 im Würzburger Stadttheater aufgeführt wurde, während Hitlers Rassenwahn schon wütete – für Wolfgang Jung ein Beispiel für den „schönen Schein und das böse Sein“.

    „Die Kilianslegende war für die Würzburger Bischöfe ein Sechser im Lotto.“

    Wolfgang Jung über die Bedeutung des Frankenapostels

    Er nimmt kein Blatt vor den Mund und die katholische Kirche ins Visier. Wie sie Soldaten zum vermeintlichen Heldentod ermunterte. Wie sie, angeführt von den Bischöfen, in „furchtbaren Gemetzeln“ jahrhundertelang die Bürger ihrer Freiheit beraubte. Und schließlich die Kilianslegende, aus Sicht Jungs eine gelungene Marketingaktion für den christlichen Glauben, was er mit Untersuchungen von Kirchenhistorikern untermauert. Machtpolitisch sei die Märtyrerlegende für die Würzburger Bischöfe ein „Sechser im Lotto“ gewesen.

    Der schöne Schein: Dazu zählt er den Wein und spürt der Plackerei der Häcker nach. Zwei Drittel der Menschen im Hochstift Würzburg lebten einst vom Weinbau. Profitiert haben andere. Wenn die kleinen Häcker nach Missernten ihre Darlehen nicht zurückzahlen konnten, verloren sie ihre Äcker und Weingärten an Klöster und Spitäler als die wichtigsten Geldverleiher. So sei es kein Zufall, dass die drei traditionsreichen Würzburger Weingüter mit zu den größten in Deutschland herangewachsen sind.

    In fast zwei Stunden packt Wolfgang Jung noch mehr Würzburger Widersprüche, endet schließlich auf der Alten Mainbrücke, über die viel Blut geflossen sei, und lenkt den Blick hinunter auf die Promenade. Sie trägt den Namen eines berühmten Schriftstellers dieser Stadt – Leonhard Frank, dessen Todestag sich am 18. August zum 50. Mal jährt. In seinem Leben findet Journalist Jung alles, was Würzburg für ihn ausmacht: Schönheit, Schrecken, Versöhnung.“

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