Hat Alexandra Zunedw wieder einmal eine Migräneattacke, gibt es für sie keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Die 30-Jährige, die im Herbst aus der Ukraine floh, lebt mit Sohn Ruslan, Tochter Elina und Mutter Tatjana im Heidingsfelder Flüchtlingsheim in einem Zimmer. „Dort fand ich sie vor wenigen Wochen in einem schlimmen Zustand vor“, sagt Lilli Setschin, die Alexandra Zunedw im Rahmen des Gesundheitsprojekts „MiMi – Mit Migranten für Migranten“ seit April begleitet.
MiMi gibt es deutschlandweit seit 13 Jahren. Entwickelt wurde das Projekt vom Ethno-Medizinischen Zentrum in Hannover. In Würzburg ist MiMi seit 2012 etabliert. „Wir sind einer von zehn Standorten in Bayern“, informiert Hermine Seelmann vom Projekt Soziale Stadt Würzburg. Umgesetzt wird MiMi in der Residenzstadt vom städtischen Sozialreferat in Kooperation mit dem Ausländer- und Integrationsbeirat. Als Mediatoren und Mediatorinnen sind momentan 15 Personen tätig. Neun davon führen aktiv Schulungen für Landsleute durch oder begleiten Migranten und Flüchtlinge zu Ärzten und in Kliniken.
Lilli Setschin war zunächst sechs Jahre lang in Schweinfurt als MiMi-Mediatorin tätig. Vor einem Jahr zog sie nach Würzburg, wo sie sich ebenfalls für MiMi zu engagieren begann. Inzwischen hat sie zwei MiMi-Zertifikate erworben. Zum einen ist sie Mediatorin, seit kurzem außerdem „Gemeindedolmetscherin“. Setschin lotst also nicht nur russischsprachige Menschen durch das deutsche Gesundheitssystem. Sie übersetzt auch direkt im Sprechzimmer des Arztes, in psychosozialen Beratungsstellen oder im Krankenhaus.
Momentan hilft Lilli Setschin in erster Linie der vierköpfigen Familie Zunedw. Mehrmals schon war sie für Alexandra, ihre Mutter und die beiden Kinder im Einsatz. Es gibt recht viel zu tun, denn nicht nur Alexandra Zunedw geht es aufgrund ihrer Migräneattacken gesundheitlich oft sehr schlecht. Auch Tatjana, ihre 55 Jahre alte Mutter, hat mit einer Reihe von Beschwerden zu kämpfen.
So sind die Zehen der zweifachen Großmutter völlig verkrümmt und verwachsen, das Gehen bereitet ihr Schmerzen. Lilli Setschin begleitete die Frau, die noch kein Deutsch spricht, zum Orthopäden. Dort schilderte sie dem Arzt das Problem. Der untersuchte Tatjana Zunedw, riet aber von einer Operation ab.
Orthopädische Schuhe wären nötig, meinte er, was Lilli Setschin der Patientin auf Russisch mitteilte. Gleichzeitig musste sie ihr allerdings auch klarmachen, dass die Schuhe derzeit nicht bezahlt würden. Das Asylverfahren der Familie läuft noch, alle vier warten auf die Anerkennung. Dennoch begleitete Lilli Setschin die junge Großmutter in ein orthopädisches Fachgeschäft. Über Spendengelder konnten zumindest Strümpfe erstanden werden.
Auch in der Missionsärztlichen Klinik war Lilli Setschin als Dolmetscherin mit der Flüchtlingsfrau, denn Tatjana hat außerdem Hautkrebs. Von dem behandelten Klinikarzt war Setschin restlos begeistert: „Er war absolut wunderbar!“ Der Mediziner half Tatjana sofort und versprach, dass sie jederzeit wieder kommen dürfe, wenn es ihr nicht gut geht oder sie Tabletten benötigt.
Lilli Setschin übt ihren Dienst als MiMi-Mediatorin und Dolmetscherin lediglich gegen eine Aufwandsentschädigung aus. Doch ums Geld geht es der studierten Ökonomin aus Russland auch nicht. Sie möchte Menschen, die von weit her nach Deutschland kamen, helfen, sich im hiesigen Gesundheitssystem zurechtzufinden. Sie selbst reiste als Deutsche aus Russland vor 23 Jahren in die Bundesrepublik ein. Auch ihr war anfangs alles völlig fremd: „Damals gab es in Russland zum Beispiel keine Krankenversicherung. Hier lernte ich, dass man, wenn man zum Arzt geht, immer das Versicherungskärtchen bei sich haben muss.“
Inzwischen wurden auch in Russland und der Ukraine Versicherungen eingeführt. Dennoch sind die Gesundheitssysteme nach wie vor völlig unterschiedlich. „In der Ukraine ist man dem jeweiligen Arzt des Bezirks zugeordnet“, erzählt Alexandra Zunedw. Der Arzt kann also nicht frei gewählt werden. Als wenig komfortabel schildert die 30-Jährige den Standard ukrainischer Krankenhäuser: „Es gibt zwar Bettwäsche, aber die ist oft in einem so schlechten Zustand, dass man besser seine eigene mitbringt.
“ Auch das Klinikessen hat sie selbst als wenig genussvoll erlebt. All dies sei in Deutschland viel besser.
Die vierköpfige Familie Zunedw ist froh, mit Lilli Setschin eine erfahrene, bestens integrierte Migrantin an der Seite zu haben, die ihnen erklärt, wie man in Deutschland zu ärztlicher Hilfe kommt. Allein, gibt Mutter Alexandra Zunedw zu, würde sie sich äußerst hilflos fühlen, da sie die deutsche Sprache nicht spricht und als Flüchtlingsfrau überhaupt so viele Probleme hat, dass ihr schlicht die Energie fehlt, sich durch ein System zu kämpfen, das ihr derart fremd ist.