Die Idee ist schön: Wenn Kinder wählen dürften, müssten Politiker mehr für sie tun. Doch ist das machbar? „Die Interessen von Kindern spielen in der Politik eine immer geringere Rolle“, sagt die ehemalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD). Sie plädiert für ein Wahlrecht von Geburt an, genau wie der Familienbund der Katholiken der Diözese Würzburg.
Frage: Ein Wahlrecht ab Geburt – wie könnte das denn konkret aussehen?
Jedes Kind hat von Geburt an das Wahlrecht. Natürlich kann ein Säugling oder Kleinkind das Wahlrecht erst mal nicht wahrnehmen, deshalb gibt es eine Stellvertretung durch die Eltern. Jedes Elterteil bekäme pro Kind eine halbe Stimme bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind selbst wählen kann. Das wäre ab dem 14. Lebensjahr. Kinder und Ausländer sind die Einzigen, die derzeit in Deutschland keinen Zugang zum Wahlrecht haben.
Sind Kinder bisher benachteiligt?
Schmidt: Die Interessen von Kindern treten immer mehr zugunsten der Interessen von Älteren zurück. Es wird überall über die Altersarmut diskutiert und diese ist mit Sicherheit auch ein kommendes Problem. Aber über die Armut von Kindern wird kaum gesprochen. Zehn bis 15 Prozent der Kinder in Deutschland leben in prekären Lebensverhältnissen, das heißt, sie sind von Armut bedroht und leben von Hartz IV. Dagegen gibt es nur drei Prozent Menschen im Rentenalter, die Grundsicherung beziehen.
Würde das Wahlrecht für Kinder auch die Politik verändern?
Schmidt: Politiker würden durch ein Wahlrecht von Geburt an gezwungen, Politik auch für Kinder verständlich zu erklären. Wenn auf einmal über 13 Millionen Stimmen mehr für Kinder da sind, dann würden die Parteien ganz andere Programme schreiben. Familienpolitik würde ein weitaus größeres Gewicht bekommen.
In der Familienpolitik hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Wie beurteilen sie die Arbeit von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig?
Schmidt: Gerade die Familienarbeitszeit ist eine tolle Idee. Die Väter nehmen zwar heute viel häufiger als früher Elternzeit in Anspruch, aber meist nehmen sie nur die zwei Vätermonate, mit denen es möglich ist, Elterngeld für 14 Monate zu beziehen. Durch die Familienarbeitszeit könnten sich Männer und Frauen die Erwerbsarbeit noch gerechter aufteilen. Denn Kinder brauchen beide Bezugspersonen, und ideal ist gleichviel Kontakt zu beiden.
Sie mussten 1961 mit 17 die Schule verlassen, weil Sie schwanger waren. Sie haben trotz ungünstiger Voraussetzungen viel erreicht. Wie ist Ihnen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelungen?
Schmidt: Damals gab es weder Elternzeit noch Elterngeld. Es gab nur Mutterschutz und es herrschte noch die 45-Stunden-Woche. Mein Glück war, dass ich meine Familie vor Ort hatte und die meines Mannes auch. Meine Urgroßmutter hat sich wahnsinnig gefreut, noch einmal eine wichtige Aufgabe zu haben und hat sich um unser erstes Kind gekümmert. Außerdem hatte mein erster Arbeitgeber, Quelle, damals bereits einen ganztägigen Betriebskindergarten. Das war außergewöhnlich.
Wie kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf heute besser gelingen?
Schmidt: Frauen müssen bereits vor der Schwangerschaft Vereinbarungen mit dem Partner treffen und sich klar darüber werden, wer sich wie und wann um die Kinder kümmert. Wenn eine Frau versucht, hundertprozentige Ehefrau, Mutter und Berufsfrau zu sein, dann wird sie schon bald ein hundertprozentiges Wrack sein. Wer welche Dinge bei der Haus- und Familienarbeit übernimmt, sollte man daher vorher ausmachen.
In Ihrem Buch „Ein Mann ist keine Altersvorsorge“, das Sie zusammen mit der Finanzberaterin Helma Sick geschrieben haben, ärgern Sie sich darüber, dass junge Frauen zu wenig aus ihren Chancen machen. Was könnten sie besser machen?
Schmidt: Wichtig ist, dass man als Frau selbst erwerbstätig ist. Falls der Mann so viel verdient, dass die Frau nicht arbeiten muss, sollte man Vereinbarungen zur Altersvorsorge treffen – für den Fall einer Trennung.
Was würden Sie angehen, wenn Sie noch Familienministerin wären?
Schmidt: Ich finde, dass Manuela Schwesig die richtigen Akzente setzt. Wenn ich aus dem Vollen schöpfen könnte, dann würde ich die Elterngeldzeit verlängern von den heute 14 Monaten auf 24 Monate und das aber zwischen Vater und Mutter paritätisch aufteilen. Sodass die Arbeitgeber auch wissen, egal ob ich einen Mann oder eine Frau einstelle, es kann sein, dass er oder sie die Elternzeit in Anspruch nehmen wird.
Zur Person Renate Schmidt, Jahrgang 1943, war von 1990 bis 1994 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und von 2002 bis 2005 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die SPD-Politikerin engagiert sich heute vor allem ehrenamtlich. Unter anderem ist sie Kuratoriumsvorsitzende des Deutschen Familienverbandes. Schmidt ist Mutter von drei Kindern und hat sieben Enkel. Buchtipp: Renate Schmidt, Lasst unsere Kinder wählen, Knösel Verlag 2013. Das Thema „Wahlrecht ab Geburt“ steht im Mittelpunkt zweier Veranstaltungen des Familienbundes der Katholiken (FDK) in Zusammenarbeit mit der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) im Bistum Würzburg. Am Samstag, 29. Oktober, findet von 14 bis 17 Uhr ein Podiumsdialog im Burkardushaus (Am Bruderhof 2, Würzburg) statt. Renate Schmidt referiert zum Thema „Lasst unsere Kinder wählen“. Axel Adrian, Autor und Notar, hält einen Vortrag „Warum wir rechtlich verpflichtet sind, ein Kinderwahlrecht einzuführen“. Beide diskutieren im Anschluss mit Michael Kroschewski, Vorsitzender des FDK im Bistum Würzburg. Auch im Kilianeum-Haus der Jugend (Ottostraße 1, Würzburg) geht es am Samstag, 19. November, von 9.30 bis 12.30 Uhr über das Wahlrecht ab Geburt. Auf dem Podium diskutieren der Demokratieforscher Wolfgang Gründinger, Bundestagsabgeordneter Paul Lehrieder, die Landtagsabgeordneten Kerstin Celina und Kathi Petersen, Thomas Lurz, Weltmeister im Langstreckenschwimmen, sowie Michael Kroschewski, Vorsitzender des FDK im Bistum Würzburg. clk/Foto: Martina Müller