„Ich bin eine Labertasche und eine Rampensau, aber ich versuche, unsere Kunden gut zu beraten“, sagt Anja Dyes. Die 52-Jährige ist psychisch krank. Sie muss Medikamente nehmen und lebt von Erwerbsminderungsrente. Wenn sie aus dem Bauwagen huscht und Bücher an Kunden verkauft, ist von ihren Problemen nichts zu merken. Dyes ist eine von sieben Mitarbeitern, die jeweils einen Tag pro Woche die „Schmökerkiste“ betreiben.
Die „Schmökerkiste“ ist ein soziales Projekt der Wärmestube. Ein alter Bauwagen, gefüllt mit gespendeten Büchern, rollt von Standort zu Standort und bietet den Würzburgern Literatur zum kleinen Preis. Die Verkäufer sind gelegentlich obdachlos, werden von Armut bedroht oder suchen nach Halt und Struktur.
Bücherladen auf Rädern
Nun wird der Bücherladen auf Rädern drei Jahre alt. Bernhard Christof vom Förderverein Wärmestube zieht ein positives Fazit. „Das Projekt hat sich bewährt. Wir wollten den Leuten Begegnungsmöglichkeiten schaffen, zur Tagesstruktur verhelfen“, so Christof. Der Bücherverkauf sei dabei nur Mittel zum Zweck gewesen. Die Idee entstand vor über drei Jahren nach Vorbild eines Nürnberger Sozialprojektes.
Heute gehört die „Schmökerkiste“ zum Stadtbild und lockt zahlreiche Kunden an den mobilen Stand. Die Kundschaft reiche vom Professor über die Reinigungskraft bis zum Studenten, so Christof.
Dabei kommen Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen miteinander ins Gespräch. „Man trifft hier auch die sogenannten Normalen und stellt immer wieder fest, dass es nur dem Zufall geschuldet ist, wer hier arbeitet“, sagt die spielsüchtige Dyes. Sie kommt selber aus einer Ärztedynastie, hat studiert und in Amerika gearbeitet. Verschont geblieben von der Schattenseite des Lebens ist sie deshalb nicht. Nach vielen Jahren der Leidenszeit verschafft ihr die „Schmökerkiste“ wieder Freude. „Ich liebe diesen Job. Er gefällt mir besser als alles, was ich zuvor gemacht habe“, so die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Englischlehrerin, die mittlerweile jeden Euro zweimal umdrehen muss.
Mitarbeiter bestimmen die Preise individuell
Von zwölf bis 16.30 Uhr schmeißt jeweils ein Mitarbeiter den Laden, berät Kunden, verkauft und macht Kassensturz. Die Bücher kosten durchschnittlich einen bis fünf Euro. Die einzelnen Buchpreise werden dabei von jedem Mitarbeiter individuell bestimmt. „Manche machen es etwas teurer und lassen sich dann runterhandeln, andere machen es billiger und holen dann obenrum noch was raus“, sagt Jan Abraham. Der 25-Jährige studiert soziale Arbeit und ist auch Projektmanager der „Schmökerkiste“. Er sieht in der freien Preisgestaltung ein wichtiges Element, um die Selbstständigkeit der Mitarbeiter zu fördern.
Die Schmökerkiste bezieht ihr Angebot ausschließlich aus gebrauchten Werken. „Ich bin überwältigt von der gigantischen Spendenbereitschaft der Würzburger, was Literatur betrifft“, so Abraham. Zwischen den Mitarbeitern ist mittlerweile ein echter Konkurrenzkampf entbrannt. Wer am meisten verkauft, steht oben in der Rangliste. Der spaßige Wettkampf spornt die Belegschaft an. „Anja ist aktuell unsere Star-Verkäuferin, dicht gefolgt vom Hans“, sagt Bernhard Christof. Der positive Konkurrenzkampf motiviere die Menschen zusätzlich.
„Meine Rekordeinnahme für die Schmökerkiste liegt bei 150 Euro an einem Tag“, sagt Anja Dyes lächelnd. Dabei verkaufte sie ungefähr 50 Bücher. „Wir schauen schon nach, was die anderen so eingenommen haben. Wir lieben das.“
Zuletzt stand der Bücher-Bauwagen in der Eichhornstraße, zuvor am Domvorplatz und am Echter-Denkmal in der Juliuspromenade. Ab dieser Woche verabschiedet er sich in die Winterpause. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in den Wintermonaten kaum Kunden kommen“, begründet Bernhard Christof die Verkaufspause. Bis zur neuen Saison versucht Anja Dyes, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen und liebäugelt schon mit einer Idee. „Vielleicht können wir auf dem Weihnachtsmarkt etwas veranstalten“, sagt sie und erntet einen hoffnungsvollen Blick von Christof.
Um den reibungslosen Verkauf zu ermöglichen, bedarf es seit Jahren enger Zusammenarbeit mit Stadt und Behörden. Transporte, Standgenehmigungen und organisatorische Unterstützung sind dabei unverzichtbar. „Unserem Schirmherrn Robert Scheller (Stadt-Kämmerer) und Werner Neun vom Ordnungsamt möchte ich besonders danken“, sagt Christof. Sie seien von Beginn an wichtige Unterstützer des Projektes gewesen.
Bernhard Christof ist zuversichtlich und geht von einer Wiedereröffnung im April oder Mai 2017 aus. „Ich sehe es schon fast als Verpflichtung gegenüber den Mitarbeitern an“, so der 57-Jährige. Als diese sich Anfang des Jahres vor seinem Büro versammelten und fragten, wann es wieder losgehe, gab es für Christof kein Zweifel an der Fortsetzung des Projekts. „Das war schon fast eine rührende Demo. Damit war alles gesagt.“