Hier, an der Ecke Theater- und Semmelstraße, herrscht Heiner Bauer. Der Winzersohn aus Thüngersheim, einem Weindorf nahe Würzburg, der an diesem Mittwoch 60 wird, arbeitet seit 35 Jahren im Stehausschank und im Weinverkauf des Bürgerspital-Weinguts. Er ist ein Original, weiß das und spielt damit. Bauer erzählt von der „BMW-Straß', wo mer hiegeht, zum Lkw-Kaufen und zum Schobbing“, was Alt-Würzburgerisch ist und die Semmelstraße meint, die früher eine Bäcker-, Metzger- und Wirtestraße war, in der man seinen Schoppen Wein trinken und einen Leberkäsweck verspeisen konnte.
Im dreigeschossigen Haus mit dem Glockenspiel, unter den Arkaden, steht „Spital-Schänke“ an der Wand; wir gehen rein. Vorsicht Stufe! Wir betreten einen erstaunlichen Raum, kaum höher als drei Meter, 24 Quadratmeter im Rechteck groß. Die Decke streckt sich über der Raummitte zu einem flachen Giebel, trotz der zwei Stockwerke, die noch drüber sind. Zur Linken, aus dunklem Holz, die Fassade eines überdimensionales Wetterhäuschens: zwei Türen, eine junge Frau auf die eine, ein junger Mann auf die andere gemalt, beide in der Würzburger Tracht. Hinter den Türen ist was los – da sind die Toiletten, gut besucht, denn der Wein ist süffig und bei einem Schoppen bleibt es nicht.
Die Würzburger sagen „Hockerle“ zum ältesten Wein-Stehausschank in der Stadt. Das liegt an den lindgründen Holzbänken, die aus gelbgrauen Wänden herauswachsen. Ein Paar kann nebeneinander sitzen, dann ragt ein langes, schmales Tischchen aus der Wand, zum Abstellen von Schoppen und Ellbogen, dann ist wieder Platz für zwei Sitzende.
In der Mitte ein hoher Tisch
Man sieht von jedem Platz aus alles. In der Mitte ein hoher Tisch: Stehplätze für zehn Leute. Theoretisch. Manchmal stehen da auch doppelt so viele. Hier brechen am hellen Nachmittag ganze Festgesellschaften ein, bringen Brot, Wurst und Käse mit, Brotzeitbretter, breiten alles auf dem Stehtisch aus, schmausen und bechern, versorgen die anderen Gäste, und verschwinden nach zwei heiter-lauten Stunden wieder. Neulich hatten welche einen „Dürrbacher Kaviar“ dabei, eine herzhaft stinkende Würzburger Käsekreation. Bauer, der Herrscher vom Hockerle, erzählt, er sei fast verreckt, und dass das Lebensfreude pur sei.
Im Hockerle geht's lebendig zu, passend zu den Weinen. Das Bürgerspital schenkt hier seine einfachen Tropfen aus, acht Guts- und Qualitätsweine, einen Kabinettswein, zu annehmbaren Preisen. Außerdem gibt's Mineralwasser, für einen Euro den Viertelliter. Die Luft ist rauchgeschwängert. Wer den stillen Genuss der bürgerspitälischen Spätlesen und Großen Gewächse sucht, muss in die edle rauchfreie Vinothek um die Ecke gehen.
Wer im Hockerle reden will, findet einen, der zuhört. Ein Herr stellt sich vor, ein, sagt er, „emigrierter Preuße“. Sein Mitteilungsdrang ist enorm: „Hier trinkt man sich Weinseligkeit an, die Leute werden nicht aggressiv, das hier ist eine ganz andere Philosophie“. Er plaudert: Er finde es herrlich im Bürgerspital, „andere geben woanders ein Schweinegeld aus, um ihr Schöppchen zu trinken, und hier kann man sogar sein Essen mitbringen“.
Nachmittags um vier, das Hockerle ist voll, man philosophiert: Ohne Zigaretten ist das Sterben besser. Der Ami will Krieg. Zwei alte Männer fachsimpeln über Schnupftabak. Der Preuße meldet sich wieder. Er weiß was zu einem Mord, den, so will er zu wissen, zwei Russland-Deutsche begangen haben. „Die Russen haben halt nur dieses und wir haben auch jenes. Das ist halt die Frage: Ist man lieber tot oder weinselig?“
Hier ist man traditionell weinselig. Das Bürgerspital, eine Stiftung nobler Würzburger aus dem frühen 14. Jahrhundert, ist auf Wein gebaut. Im Keller, in einer von drei Schatzkammern, steht hinter Panzerglas der älteste trinkbare Wein der Welt, die letzte Flasche eines 1540ers vom Würzburger Stein: gelesen und gekeltert zu Lebzeiten Martin Luthers, älter als William Shakespeare. 1598 bekamen die Pfründner des Spitals, Männer wie Frauen, täglich ein Maß – 1,22 Liter – Wein. Verhielten sie sich unbotmäßig, wurde ihnen die Ration gestrichen – eine drakonische Strafe.
Im 18. Jahrhundert erhob der Würzburger Stadtrat den Bocksbeutel, in dem die bürgerspitälischen Weine abgefüllt waren, zu einer Art Qualitätssiegel. Die bauchige Bouteille, eine Reaktion auf „gottvergessene Weinfälscher und Schmierer“, sollte „das treffliche heimische Gewächs wieder zu Ehren zu bringen“ und schaffte das auch. Noch im 19. Jahrhundert ernährten sich fast zwei Drittel der Bevölkerung vom Weinbau. Die Arbeit der Häcker war hart, ihre Armut sprichwörtlich.
Der Winzersohn Bauer hat als junger Mann auch im Weinberg gearbeitet, ohne Freude. Er steht hinterm Schankfenster, schaut ins Hockerle hinein (er sagt: „nach draußen“), und erzählt, er habe schon immer Papst werden wollen. Päpste würden getragen und hätten keine dreckigen Finger. Der Mann erzählt ein Zeug! Einer Kundin macht er weis, die Würzburger sagten „Jetzt schlägt's dreizehn“, weil ihre Uni 13 Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Und schaut in komischer Verzweiflung zur Decke, als leide er selbst unter seinen Sprüchen. Dabei sieht er aus, als wäre er selbst einer Geschichte entsprungen; mit seinem graumelierten Schnurr- und Kinnbart erinnert er an einen Musketier von Alexander Dumas.
Vom Wesen des Silvaners
Jetzt doziert er über das Wesen des Silvaners: „Ein Silvaner sagt nicht, ich bin ein Silvaner und du bist das Essen.“ Ein Silvaner halte sich im Hintergrund, als stiller, idealer Begleiter der Speise. Ganz anders könne ein Riesling daherkommen. „Der sagt: Ich bin ein Riesling, und dann erschlägt er das Essen“.
Es ist halb fünf am Nachmittag: Schöne Menschenbilder sieht man im Hockerle. Zwei alte Frauen, zwischen ihnen das Tischchen, auf das beide einen Ellbogen stützen, jede bedächtig den Kopf in die Hand gelegt, die Ohren nah beieinander. Sie schauen in eine unbestimmte Ferne und plaudern leise. Derweil „Hallo“ und strahlende Gesichter bei den Männern in den besten Jahren am Stehtisch: Ein alter Kumpan kommt rein: „Wo kommst Du denn hergetrieben?“
Die Zeiten „sin annersch worn“, sagt Bauer. Man müsse nur vor die Tür schauen: Die BMW-Straße sei auch nicht mehr das, was sie mal war. Im Hockerle aber ist die Zeit stehen geblieben. „Draußen“, philosophiert der weinselige Preuße und meint die Welt, „ist es erkaltet. Aber hier, hier ist es einfach herrlich“.