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EISINGEN: Wenn Adoptivkinder ihre Geschichte suchen

EISINGEN

Wenn Adoptivkinder ihre Geschichte suchen

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    Eine ehemalige Erzieherin gab Georgi Hauschild Fotografien aus seiner Zeit im Kinderheim in Bulgarien mit.
    Eine ehemalige Erzieherin gab Georgi Hauschild Fotografien aus seiner Zeit im Kinderheim in Bulgarien mit. Foto: Foto: Pat Christ

    Wenn Georgi Hauschild an seine allerersten Lebensjahre dachte, beschlich ihn immer ein beklemmendes Gefühl. Warum, wusste er selbst nicht so genau. Denn konkrete Erinnerungen hatte er kaum. Das ist nun anders: Nach 15 Jahren hat es der junge Mann aus Eisingen (Lkr. Würzburg) gewagt, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Georgi Hauschild stammt aus Bulgarien. Mit sechs Jahren wurde er adoptiert: „Ich hatte das in all den Jahren nie ansprechen können, das war ein großes Tabuthema gewesen.“

    Alles änderte sich heuer im April. Zum ersten Mal betrat Hauschild wieder bulgarischen Boden. Er besuchte das Kinderheim, in das er vermutlich mit einem Jahr gekommen war. Und er traf eine Erzieherin aus seiner damaligen Kindergruppe wieder. Alleine war er dabei nicht. Hauschild, der in der Fachschule der Robert-Kümmert-Akademie seit einem Jahr den Beruf des Heilerziehungspflegers erlernt, nahm an einem Auslandspraktikum innerhalb des EU-Programms Erasmus+ teil. Zu der kleinen Reisegruppe gehörte sein Ausbildungsmentor. Der unterstützte Hauschild bei der schwierigen Konfrontation mit seiner Vergangenheit.

    Wie sehr hatte er sich gewünscht, auch einmal abgeholt zu werden.

    Am vorletzten Tag der Auslandswoche entschloss sich die vierköpfige Gruppe, Hauschilds ehemaliges Kinderheim in der Stadt Gabrowo zu suchen: „Ich wollte es nur von außen sehen und ein paar Fotos machen“. Als der junge Mann den abgelegenen, weißen Gebäudekomplex von weitem sah, erkannte er ihn sofort wieder. Hier hatte er von seinem Gruppenzimmer aus oft sehnsüchtig auf die „Brücke“ zwischen Haupteingang und Hauptweg hinabgesehen. „Manchmal fuhren Autos vor. Dann ging ein Kind die Brücke entlang, stieg ein und kam nie mehr zurück.“ Wie sehr hatte er es sich gewünscht, auch einmal abgeholt zu werden. Und endlich Eltern zu haben.

    An seine ersten fünf Lebensjahre kann sich der gebürtige Bulgare fast nicht mehr erinnern: „Es ist, als wäre eine Festplatte gelöscht“. Erst, als seine heutigen Eltern in sein Leben traten, setzt seine Erinnerung ein. Warum er aber oft ein so schlechtes Gefühl hat, wenn er an sich als Kind zurückdenkt, weiß er nicht. Es gab genug zu essen. Der Kindergarten war schön. Gut, das Bett war hart und unbequem. Auch hatte es Strafen gegeben. Kommen die schlechten Gefühle vielleicht also noch von seiner Ursprungsfamilie? Hauschild weiß es nicht. Und wird es wohl nie erfahren.

    Der junge Mann erkannte das Musikzimmer, den Schlafsall und ein Gemälde wieder.

    Seit seinem Besuch in Bulgarien ist das schlechte Gefühl besser, manchmal auch weg. Was vor allem an einer ehemaligen Erzieherin lag, die sich noch gut an ihn erinnern konnte. Sie brachte eine Kiste voller Fotos. Auf vielen der meist unscharfen, verwaschenen Bilder lächelt Hauschild in die Kamera. „Ich galt als umgängliches Kind“, weiß er.

    Die Erzieherin war gerührt über das Wiedersehen: „Sie meinte, das hätte sie noch nie erlebt, dass ein adoptiertes Kind noch einmal zurückkommt.“ Sie führte die Besucher durch das Haus, teilweise kamen Hauschilds Erinnerungen zurück: „Ich erkannte das Musikzimmer, da hatte ich Akkordeon gespielt.“ Auch wusste er noch, wo der Fernseher hing, die Badewanne stand und sich im ehemaligen Schlafsaal ungefähr sein Bett befunden hatte. Besonders vertraut schien ihm ein großes Wandgemälde: „Die Metalllok auf dem Spielplatz.“

    Nach dem Besuch in der Vergangenheit will Georgi Hauschild vielleicht Bulgarisch lernen.

    Heute leben keine elternlosen Kinder mehr in dem Gebäude: „Es gibt im Moment nur noch eine Tagesgruppe für Kinder mit psychischer Behinderung.“ Der gesamte Komplex soll 2018 saniert werden. In einem Jahr hätte Hauschild das Wandgemälde also nicht mehr zu sehen bekommen. Alles wäre anders gewesen, viele Erinnerungen unmöglich wieder aufzufrischen: „Es war ein unglaublicher Zufall, dass ich genau zum jetzigen Zeitpunkt nach Bulgarien kam.“

    Hauschild ist froh, dass er seine Angst überwunden und die Gespenster der Vergangenheit vertrieben hat. Anderen erwachsenen Adoptivkindern kann er nur raten, sich auf Spurensuche nach ihren Wurzeln zu begeben. „Ich selbst habe viel zu lange alles verdrängt“, sagt der junge Mann, der im Eisinger St. Josefs-Stift den praktischen Teil seiner Ausbildung absolviert. Frühere Angebote seiner Eltern, zum Urlaub nach Bulgarien zu fahren, hatte er immer abgelehnt. Bloß nicht!

    Inzwischen kann sich Hauschild sogar vorstellen, noch einmal Bulgarisch zu lernen: „Denn ich kann kein einziges Wort mehr.“ Selbst für eine weitere Fahrt nach Bulgarien wäre er offen. Einfach nur um da zu sein, wo sein Leben begonnen hat.

    Erasmus+ Durch das EU-Programm Erasmus+ sollen Auszubildende verschiedene Systeme der beruflichen Bildung in Europa kennenlernen. Die Würzburger Fachschule für Heilerziehungspflege stellte den diesjährigen Austausch unter das Motto „Antidiskriminierung in der Ausbildung von Heilerziehungspflegern“. Zwei Gruppen besuchten verschiedene Partnereinrichtungen in ganz Europa. Georgi Hauschild war Teil einer vierköpfigen Gruppe, die im April das Cedar Foundation Sofia und Kazanlak in Bulgarien kennenlernte. pat

    „Ich selbst habe viel zu lange alles verdrängt.“

    Georgi Hauschild, Adoptivkind

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