Majestätisch beugt sich Renier Baaken durch das kleine Turmfenster. Immer dann, wenn er zu Hause ist, wird die Fahne gehisst. Wie bei der Queen im Buckingham Palace. Und das gelb-rote Banner vermittelt tatsächlich den Eindruck, hier wohnt jemand adeliger Herkunft. Ist aber nicht so. Es ist die Flagge der freien Republik Venedig. „Ein Gag. Nichts weiter“, sagt Renier Baaken. Einst war er Chefdramaturg am Würzburger Theater. Heute ist er ein bekannter Synchronsprecher und arrangiert im Sommer die Geyer-Festspiele in Giebelstadt. Seit 1990 wohnt er in den Hundheimer Tortürmen in Röttingen.
Die Ritterrüstung im Eingangsbereich, das silberne Schild, das Bärenfell, die Lanzen, selbst der Wehrgang zwischen den Türmen ist nachgebaut. „Glauben Sie nicht, dass dies alles echt ist“, sagt Renier Baaken und grinst. „Hier ist nichts echt“, sagt er. „Alles ist nachgebaut, auch wenn es noch so alt aussieht.“ Das einzig Echte an Renier Baakens Domizil sind die beiden Türme, in denen er seit 24 Jahren während des Sommers lebt.
Über die Geschichte der Türme ist wenig bekannt. Nicht einmal Stadtführer wissen Näheres. Auch nicht, warum es zwei von den Türmen gibt. Renier Baaken hat sich seine eigene Geschichte darüber zusammengereimt. Eine, die schlüssig klingt. Er glaubt, dass das ursprüngliche Tor zu klein geworden ist und schließlich ein größeres gebaut wurde. Dabei blieb der erste Turm einfach stehen. „Zwei Türme, im Abstand von sechs Metern. So was hab' ich noch nie gesehen“, freut sich Renier Baaken über sein ziemlich außergewöhnliches Domizil.
Die Türme gehören der Stadt Röttingen. Wahrscheinlich wären sie heute von oben bis unten voll mit Taubendreck, wäre Baaken nicht 1989 in Röttingen hängen geblieben. Dem Mann aus Krefeld hat es in Franken gefallen. Auf seiner Suche nach einer Bleibe entdeckte Baaken die Röttinger Türme und es kitzelte ihn. „Wenn ich so etwas Heruntergekommenes sehe, kann ich mich nicht bremsen“, beschreibt er seinen Tick für Ruinen.
Die Hundheimer Tortürme sind Projekt Nummer fünf von sieben auf Baakens Liste. Zuvor hat er unter anderem eine Gärtnerei bei Düsseldorf, ein Landhaus in Ligurien, eine Finka auf Mallorca, ein altes Bauernhaus samt Stall und Scheune ausgebaut. „Baufälliges hat mich mein Leben lang beschäftigt“, sagt er. Und es war und muss immer spannend sein, Baakens Leben. Denn der Synchronsprecher hasst nichts mehr als Langeweile. So kamen ihm die beiden Türme damals gerade recht. Der große von beiden sah wüst aus. Voll mit Taubenkot. Keine Fußböden, keine Decken, kein Licht, kein Wasser – ein heruntergekommener Rohbau. Der kleinere kaum einen Deut besser. Dafür, dass er alles renovierte, bekam Baaken von der Stadt Röttingen ein Wohnrecht in den Türmen. Heute zahlt er eine geringe Miete dafür.
Einen Obolus für schräge Wände, schiefe Wände, für wenig Raum. In keinem Zimmer gibt es Polstermöbel, die passen nicht durch die Tür. Die winzige Küche hat ein Werftschreiner haargenau geplant. Kein Teil ist in seinen Einzelteilen breiter als 50 Zentimeter. „Als ich einzog, gab's Spülmaschine, Kühlschrank und Herd noch im 50er Maß. Mein Glück“, sagt der fitte Mittsechziger. Fit ist er, weil es in seinen Türmen stets treppauf, treppab geht. Wenn er von seinem Wohnzimmer beispielsweise in sein Tonstudio möchte, muss er erst mal 60 Stufen runter, dann sechs Meter durch den Wehrgang und im kleinen Turm wieder 60 Stufen nach oben steigen. Baaken absolviert das leichtfüßig, Besucher versetzt das geballte Auf und Ab hingegen meist in heftiges Keuchen.
Wohnen in zwei Türmen, das hört sich romantisch an, ist aber auch mit vielen Einschränkungen verbunden. Es muss schon ein Liebhaber sein, der sich in den kleinen Räumen wohlfühlt. Im Winter sind die Turmzimmer nicht zu beheizen. Es gibt keinen Schornstein. Und eine Elektroheizung würde zu hohe Kosten verursachen. Und eine Wärmedämmung gibt es schon gar nicht. Die Mauer um das Erkerzimmer ist nur zwölf Zentimeter dick. Baaken zieht es deswegen im September in seine Finca auf Mallorca. Sein anderes, warmes Zuhause. Im Mai kehrt er in seine Türme zurück und bereitet sich dort auch auf die Geyer-Festspiele in Giebelstadt vor, deren Regisseur er seit 25 Jahren ist.
Ans Ausziehen denkt er vorerst nicht. Vielleicht irgendwann mal, wenn es ihm doch zu langweilig wird. So lange ihm das alte Gemäuer aber Geschichten erzählt, so lange er noch spürt, was die Türme in ihren 600 Jahren erlebt haben – so lange will er bleiben, auf alle runterblicken und die Fahne der freien Republik Venedig hissen.
In der Serie „Ungewohnt Wohnen“ stellen wir Menschen aus Mainfranken vor, die mit ihren Unterkünften aus der Reihe tanzen: Ein Mann, der sich etwa in ein Nonnenkloster eingemietet hat, Menschen, die seit Jahren im Wohnwagen leben oder die sich zum Beispiel eine alte Synagoge oder einen Bahnhof hergerichtet haben.