Sie ist der Hingucker in Karen Bauers Flur: eine große Deutschlandkarte, gespickt mit Fotos, die die 48-Jährige lachend mit ihren Pflegekindern Faruk und Rajib zeigen. Ob Berlin, Borkum oder Rothenburg – die zwei 19-Jährigen aus Bangladesch scheinen in den zwei Jahren, die sie in Frickenhausen bei Karen Bauer wohnen, bereits viel herumgekommen zu sein.
„Im Oktober 2015 kam der Anruf einer Freundin, die fragte, ob ich Pflegekinder aufnehmen könne“, erinnert sich Bauer. Für sie, die selbst keine Kinder, dafür ein großes Haus mit viel Platz hat, war die Entscheidung schnell getroffen: „Es ist doch Pflicht, in unserem reichen Land etwas zu tun“, sagt Bauer mit Entschlossenheit in der Stimme. Und so standen kurze Zeit später zwei 17-Jährige aus Bangladesch vor ihrer Tür: Faruk und Rajib.
In den folgenden zwei Jahren seien die drei eine „tolle Familie“ geworden, so Bauer. Eine Familie, in der trotz ihrer ungewöhnlichen Zusammensetzung auch viel Normalität herrsche: „Bei uns gibt es auch mal Streit“, lacht Bauer, und wird gleich darauf wieder ernst. Von Normalität ist ihre kleine Familie seit Monaten weit entfernt, stattdessen hat sich große Sorge breit gemacht. Sorge um Faruks jüngeren Bruder Jahid, der in seiner Heimat Bangladesch verfolgt wird und in Indien im Untergrund lebt.
Drohungen, die Brüder umzubringen
Seit über einem Jahr bemühen sich Bauer und ihr Pflegesohn Faruk darum, den 16-Jährigen, dessen körperlicher und psychischer Zustand sich stetig verschlechtert, ebenfalls nach Deutschland zu holen. Damit Jahid in Frickenhausen bei Bauer wohnen darf, ist die Genehmigung der Ausländerbehörde des Landkreises Würzburg nötig. Sieben Monate lang hat Bauer für einen Antrag zur Familienzusammenführung der Brüder verschiedenste Unterlagen zusammengetragen. Im August erreicht sie ein Schreiben des Landrats: Es sei keine Rechtsgrundlage für einen Familiennachzug von Jahid erfüllt, heißt es darin, schließlich liege kein Fall außergewöhnlicher Härte vor.
Das sieht Bauer anders: Sie stuft Jahids Schicksal als Härtefall ein und befürchtet, dass die Entscheidung das „Todesurteil“ für den 16-Jährigen sein könnte. Mit Hilfe eines Anwalts hat sie die Entscheidung des Landratsamtes angefochten. Die Hintergründe für die drastische Einschätzung der 48-Jährigen sind komplex, ebenso wie die Hintergründe, die es den Brüdern unmöglich machen, weiter in ihrer Heimat Bangladesch zu leben.
Faruk und Jahid teilen ein- und dasselbe Schicksal: Ihre Familie wird laut Bauer von einer politisch sehr einflussreichen Familie, den Cousins des Vaters, erpresst. „Ihnen geht es um das Grundstück, auf dem das Haus der Familie von Faruk und Jahid steht“, so die Frickenhäuserin. Das Haus aber ist ihre Lebensgrundlage, ohne die die Familie auf der Straße leben müsste – und die Brüder sind die Erben.
Schulabbruch wegen Panikattacken
Um das Grundstück für sich beanspruchen zu können, seien die Cousins vor nichts zurückgeschreckt: von Polizeieinsätzen bis hin zu offenen Drohungen, Faruk und Jahid umzubringen. „Familien, die politisch das Sagen haben, erweitern durch Erpressung ihren Besitz“, sagt Bauer. Die Polizei in Bangladesch sei völlig korrupt. „Wenn sie Geld braucht, wird jemand festgenommen, und die Familie muss denjenigen freikaufen.“ Die Brüder seien bereits mehrmals von der Polizei verhaftet und auch misshandelt worden – meist unter dem Vorwand, sie hätten Drogen genommen.
Bereits im Jahr 2010 hatte der Vater von Faruk und Jahid einen Angriff auf seine Familie zur Anzeige gebracht. Der Staat habe die Anzeige bis heute nicht verfolgt, so Bauer – Faruk aber, der bei der Auseinandersetzung seinen Vater schützen wollte, wurde so schwer verletzt, dass er anschließend 30 Tage im Koma lag. Der Vorfall war der Auslöser für Faruks Flucht, die den damals 12-Jährigen zunächst nach Indien führte. Über Stationen in Pakistan, dem Iran, der Türkei und Griechenland kam er 2015 nach Deutschland.
Nach seiner Flucht konzentrierten sich die Angriffe der Cousins auf Faruks jüngeren Bruder Jahid. Seit 2015 wurde dieser zweimal verhaftet und im Gefängnis misshandelt. „Seine Familie konnte ihn bisher immer freikaufen“, sagt Bauer. „Einmal war nicht klar, ob er noch lebt.“ Mit 14 hatte Jahid so schwere Panikattacken, dass er die Schule abbrechen musste.
Auch er floh nach Indien, wo er sich seitdem alleine durchschlägt. Da er keinen festen Wohnsitz hat, muss er alle drei Monate nach Bangladesch zurückkehren, um eine Verlängerung seines Touristenvisums für Indien zu beantragen. „Jahid kann sich nur in seinem jeweiligen Versteck aufhalten, er ist schwer depressiv“, schildert Bauer den Alltag des 16-Jährigen. „Das ist kein Leben, wenn man nicht vor die Tür gehen kann, ohne befürchten zu müssen, auf
Auswegloser Alltag im Untergrund
gegriffen und verhaftet zu werden.“ Übers Internet telefoniert Jahid regelmäßig mit seinem Bruder Faruk, der ihm sagt, wo er als nächstes unterkommen könnte, was er essen und welche Medizin er nehmen soll.
Wie ernst Jahids Zustand ist – er ist schwer traumatisiert, hatte eine unbehandelte Gelbsucht und leidet unter schwerer Anämie, die zu einem Organversagen führen könnte – bestätigt auch ein Gutachten des Internationalen Sozialdienstes (ISS). Der Dienst mit Sitz in Berlin versteht sich als zentrale Anlaufstelle für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte. ISS- Kollegen aus Indien haben mit Jahid mehrere Ärzte aufgesucht; die jeweiligen Gutachten sind beglaubigt und übersetzt.
Jahid braucht dringend gesundheitliche Hilfe, so das Fazit der Untersuchungen. Sein Zustand mache es erforderlich, dass er mit einem Familienmitglied zusammengeführt werde. „Psychische Traumatisierungen, wie Jahid sie erlitten hat, können in Bangladesch nicht behandelt werden“, sagt Bauer. „Ich habe die Befürchtung, dass er nicht mehr lange durchhält.“
In den Sommerferien hat sich die Religionslehrerin selbst auf den Weg nach Bangladesch gemacht: Ein Termin bei der Deutschen Botschaft in der Hauptstadt Dhaka sollte Klarheit in den Fall bringen. Dort hat Bauer zusammen mit Jahid und dessen Vater ein Härtefall-Visum zur Familienzusammenführung beantragt – nur so könnte Jahid nach Deutschland einreisen, die Zustimmung des Landratsamts Würzburg noch immer vorausgesetzt.
„In der Familie von Faruk und Jahid sind fast alle Analphabeten, alleine hätten sie den Visumsantrag nicht stellen können“, sagt Bauer, die im Vorfeld der Reise über 100 Seiten an Unterlagen – übersetzt und beglaubigt – zusammengetragen hat: von Faruks Meldebestätigung aus Deutschland, über den Ausweis und die Geburtsurkunde Jahids bis zu Informationen über Bauers finanzielle Lage.
Familie der Brüder wird gemieden
„Ich verdiene gut und verzichte auf jegliche finanzielle Unterstützung“, betont Bauer im Hinblick auf die Versorgung Jahids in Deutschland. Ihre Krankenkasse habe zudem bestätigt, dass der 16-Jährige in die Familienversicherung aufgenommen werden könnte. „Jahid ist ein Einzelfall“, verdeutlicht Bauer. „Niemand muss Angst haben, dass noch jemand nachzieht.“ Die kleine Schwester von Faruk und Jahid habe keine Verfolgung zu befürchten, da sie als Mädchen nicht als Erbin für das Grundstück eingesetzt werden könne; der Vater konnte sich in der Vergangenheit frei kaufen.
In Bangladesch traf Bauer auch die Familie ihres Pflegesohns – und erlebte, wie traumatisiert Jahids und Faruks Angehörige sind. „Den älteren Sohn, Faruk, haben die Eltern und seine kleine Schwester seit siebeneinhalb Jahren nicht mehr gesehen; der jüngere Sohn, Jahid, ist noch immer in Gefahr.“ Von Freunden und Verwandten würde die Familie gemieden, da bei ihnen immer wieder die Polizei auftauche. „Die Mutter leidet sehr darunter, dass sie ihre Söhne wegschicken musste“, sagt Bauer.
„Kein Kind verlässt freiwillig seine Heimat“
Der Fall der beiden Brüder zeigt: „Es gibt auch Verfolgungsschicksale in Ländern, in denen kein Krieg herrscht“, so Bauer. „Kein Kind verlässt freiwillig seine Heimat – schon gar nicht in einem Land wie Bangladesch, wo das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Familie wahnsinnig groß ist.“
Das monatelange Ringen um Jahids Nachzug könnte nun bald ein Ende haben. Die Entscheidung der Deutschen Botschaft in Dhaka über ein Härtefall-Visum für den 16-Jährigen geht an die Ausländerbehörde des Landratsamts Würzburg, die dann den Familiennachzug ablehnen oder genehmigen kann. „Ich habe die Hoffnung, dass wir noch in diesem Jahr Gewissheit über Jahids Zukunft bekommen, und dass im Advent endlich Ruhe bei uns einkehrt“, sagt Bauer. Der größte Wunsch ihrer Familie: dass Jahid zu Weihnachten in Frickenhausen sein kann.
Regelungen für Ausländer in Deutschland Grundsätzlich muss jeder Ausländer, der nach Deutschland einreisen und sich hier aufhalten möchte, einen Aufenthaltstitel besitzen. Dies gilt nicht für Bürger von EU-Mitgliedstaaten oder Angehörige bestimmter privilegierter Staaten, die sich vorübergehend visumsfrei und ohne Aufenthaltstitel hier aufhalten dürfen (z.B. Touristen aus Kanada oder Kroatien). Für Aufenthalte bis zu drei Monaten gibt es ein Besuchsvisum: das „Schengen-Visum“, das direkt von den Auslandsvertretungen (der zuständigen Botschaft) erteilt wird. Für längere Aufenthalte muss ein nationales Visum für Deutschland beantragt werden. Im Falle eines Familiennachzugs muss der Nachziehende bei der deutschen Botschaft in seinem Heimatland den Antrag stellen. Für eine Erteilung des Visums ist die Zustimmung der Ausländerbehörde nötig, in deren Einzugsgebiet der Nachziehende sich aufhalten bzw. wohnen möchte. Die Botschaft vermittelt die Antragsunterlagen an die zuständige Ausländerbehörde und fügt ein eigenes Votum bei. Die Ausländerbehörde prüft insbesondere die Angaben vor Ort (hier lebende Familienangehörige, Ehegatten, Kinder, potenzielle Arbeitgeber, Vermieter) und übermittelt ihr Ergebnis und ihre Stellungnahme an die Botschaft. Diese trifft eine abschließende Entscheidung über den Visumsantrag und informiert den Antragssteller. Die Entscheidung sollte im Einvernehmen beider Behörden getroffen werden. Ist das nicht möglich, trifft die Auslandsvertretung die letzte Entscheidung. CAT
„Jahid kann sich nur in seinem jeweiligen Versteck aufhalten, er ist schwer depressiv.“
Karen Bauer über den Bruder ihres Pflegesohns aus Bangladesch