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WÜRZBURG: Wie Alexander Leipold das Schicksal schlug

WÜRZBURG

Wie Alexander Leipold das Schicksal schlug

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    Alexander Leipold bei einem Ringkampf in Sofia im November 2001.ARCHIVFOTO: DPA
    Alexander Leipold bei einem Ringkampf in Sofia im November 2001.ARCHIVFOTO: DPA Foto: Mladen Antonov (EPA)

    Man sagt sie so leichtfertig dahin. Tippt sie eben mal schnell ein. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Oder: „Fallen darf man, aber man muss wieder aufstehen.“ Oder: „Zeit heilt Wunden.“ Solche Sätze, ähnliche Sinnsprüche. Häufig benutzt und abgedroschen, wiederholt bis zur Plattitüde.

    Wenn Alexander Leipold sagt, „wer nicht kämpft, hat schon verloren“ – dann steht hinter diesem Satz die Wucht von Schicksalsschlägen. Gleich mehreren gleich.

    „Warum ich?“ - „Warum ich nicht?“

    Denn wie steht man wieder auf, wie kämpft man, wenn man bewegungsunfähig auf der Intensivstation liegt? Wie verzweifelt man nicht nach drei Schlaganfällen an dieser einen, großen Schicksalsfrage: „Warum ich?“

    Juli 2003. Der Freistilringer und Ausnahmeathlet Alexander Leipold ist mit der Nationalmannschaft im Trainingslager in Usbekistan. Gerade ist er Zweiter der Europameisterschaft geworden, die Weltmeisterschaft steht an, und er will nach Athen, zu den Olympischen Spielen 2004. In Sydney hatten sie ihm nach drei Tagen die errungene Goldmedaille im Weltergewicht abgenommen: Disqualifikation wegen eines erhöhten Nandrolon-Werts. Leipold sagt wieder und wieder: „Ich habe nicht gedopt.“ Er liefert Indizien im Kampf für seine Unschuld, am Ende eines langwierigen Prozesses wird seine zweijährige Sperre auf ein Jahr verkürzt. Die Medaille bekommt er nicht zurück. Sieger der Olympischen Spiele von Sidney darf er sich zwar offiziell nennen. Aber er will das Gold.

    Leichtes Kribbeln, merkwürdiges Gefühl

    In Trainingslager in Usbekistan kribbelt es irgendwann leicht im linken Arm. Dann kribbelt es ein bisschen im Bein, kribbelt es links am Mund. Leipold hat merkwürdige Schluckbeschwerden. Der Spitzensportler witzelt beim Essen mit den Kollegen über die Gefühlsstörung und sticht mit Messer und Gabel auf der tauben Hand herum. Der Physiotherapeut am Telefon witzelt nicht und bittet den Athleten, sofort zurückfliegen. Der Neurologe in Aschaffenburg sieht die Bilder der Computertomografie und schickt Leipold gleich nach Würzburg an die Uniklinik.

    In den Wochen davor hatte der Ringer unter einer schweren Virusinfektion gelitten. Die Würzburger Ärzte wollen noch ein paar Untersuchungen machen. Leipold fühlt sich fit und gesund, es kribbelt auch nichts mehr. Zwischen MRT, CT und Echokardiografie setzt er sich aufs Rad und macht Bauchmuskelübungen oder Liegestütze.

    Regungslos beim Routinecheck

    Bis er nachts bei einem Routinecheck während des Langzeit-EKGs geweckt wird – und zu keiner Regung fähig ist, kein Wort herausbringt. Leipold will schreien. Es kommt nur ein Röcheln. Leipold will aufspringen. Der Körper rührt sich nicht.

    Durch die Überreaktion des Immunsystems erleidet der 34-jährige Athlet nach dem leichten Schlaganfall im Trainingslager innerhalb kurzer Zeit in der Uniklinik zwei weitere Schlaganfälle, ist halbseitig gelähmt, kann nicht mehr sprechen und kaum noch schlucken. Warum? Und warum er?

    „Warum ich?“ – Ja, sagt Leipold, das sei sein erster Gedanke, damals auf der Intensivstation gewesen. „Warum nicht?“, fügt er heute, 13 Jahre später, als Botschafter der Deutschen Schlaganfall-Hilfe hinzu. Etwa 250 000 Menschen erleiden in Deutschland jedes Jahr einen Gehirnschlag. „Es kann jeden treffen“, sagt der gebürtiger Alzenauer – und spricht mit großer Besonnenheit über sein Schicksal. Und darüber, was er daraus machte.

    Hoffnungslosigkeit ringt er nieder

    „Warum ich?“ – Dem Hadern lässt Leipold nicht viel Raum, Hoffnungslosigkeit und Angst vor einem vierten Gehirnschlag ringt der dreifache Schlaganfallpatient im Ansatz nieder. Der Körper, den er als Sportler beherrschte, dessen Warnsignale er kannte, auf den er zu hören gelernt hatte – er ist aufgedunsen durch das Kortison. Am Bett steht Leipolds vierjähriger Sohn und cremt den Vater ein. Der denkt: „Du kannst doch nicht liegenbleiben. Ich will zurück ins Leben.“

    Abertausende Male lag Leipold auf dem Kreuz, ist auf der Ringermatte wieder aufgestanden, hat sich nach Niederlagen zurückgekämpft. Oft schon war Leipold abgeschrieben gewesen: Als er 15 ist, diagnostiziert ein Orthopäde extreme Rückgratverkrümmung und sagt: „Du kannst auf keinen Fall mehr ringen.“ Als Leipold 20 ist, wird eine Knochenerweichung im Knie diagnostiziert. Auf die OP folgt ein Jahr des Zweifelns und Resignierens an Krücken. Aber er kämpft.

    Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner

    Der neue Gegner ist unsichtbar und nicht zu berechnen. Leipold wartet er nicht, sondern verordnet sich selbst in der „Stroke Unit“, der speziellen Schlaganfallstation, ein ehrgeiziges Trainingsprogramm. Eine Minute Po anspannen. Drei Sekunden Bauchmuskeln anziehen. Becken heben, linkes Bein strecken. Sich mit dem Infusions-Gestell den halben Gang entlangschleppen. Den ganzen Klinikflur schaffen und zurück. Leipold setzt auf seinem Laptop eine Excel-Datei auf und führt penibel über alles Buch.

    Training am Krankenbett

    Statt in der Sporthalle und im Kraftraum, trainiert er am Krankenbett. Zähne putzen. Sich alleine anziehen. Eigenständig essen. Sprechen. Einen Purzelbaum machen. Wenn die Ärzte sagen, er wird etwas nicht mehr können, will er genau das unbedingt. Wenn andere in der Reha vier Einheiten am Tag machen, macht er zehn. Koordinationsübungen, Thai-Chi, Gedicht-Auswendiglernen, Reittherapie. „Man muss schon ein bisschen verrückt sein“, sagt der 47-Jährige heute mit dem Leipold-Lächeln und den verschmitzt blitzenden Augen.

    Er kämpft nicht nur für sich. Im Medical Park Bad Rodach hört er den anderen Patienten zu, er motiviert. Auch wenn er selbst Angst vor Rückschlägen hat. Auch wenn bei jedem Zucken, jedem komischen Gefühl im Bein die Ungewissheit zurückkommt. Der Mann, der auf 1000 war und bei Null ist, gibt den Schicksalgenossen in der Reha Zuversicht weiter: „Von Null geht es immer nach oben.“

    Wieder auf der Mathe

    Vier Monate nach den Schlaganfällen steht der Mann, der in Karlstein lebt, wieder auf der Matte. Noch vor Weihnachten hat er seinen ersten Kampf. Der Sportler Leipold ist wieder da und kehrt an die Weltspitze zurück. Für Athen reicht es nicht. Aber er wird noch einmal Weltmeister. Und 2005 Bundestrainer für den Nachwuchs, später für die Herren.

    Krankheitsgeschichte als Erfolgsgeschichte

    „Für mich sind die Schlaganfälle nicht mit Tragik behaftet“, sagt Leipold. Seine Krankengeschichte – sie sei ja auch „eine Erfolgsgeschichte“. Und er gibt sie weiter. In Schulen, vor Patienten, bei Motivationsseminaren vor Unternehmern und Managern von Nestlé, Bayer AG oder Lufthansa. „Ich erzähle nicht Tschakka, Du schaffst es!“, erklärt der Industriekaufmann den Sinn seiner Auftritte, Vorträge und Gespräche und seines ehrenamtlichen Engagements. „Ich erzähle meine Geschichte und wie es bei mir war.“

    Hinfallen darf man, sagt Leipold. Er zeigt, dass man auch wieder aufstehen kann.

    Ärzte antworten auf Fragen

    Depressionen und Schlaganfall sind Volkskrankheiten und können jeden treffen. „Das Schicksal kann uns mal!“ heißt es bei der Main-Post-Akademie am Mittwoch, 29. Juni. Im Vogel Convention Center in Würzburg sind ab 19 Uhr die Sportler Matthias Behr und Alexander Leipold sowie ihre behandelnden Ärzte zu Gast. Professor Wolfgang Müllges von der Uniklinik Würzburg und Dr. Mathias Jähnel vom Krankenhaus Tauberbischofsheim werden dann auch Leser-Fragen beantworten. Vorab kann man sie schicken an die Main-Post, Chefredaktion, Berner Straße 2, 97084 Würzburg oder unter www.mainpost.de/schicksal. Weitere Infos und Anmeldung: Tel. (0931) 60 01 60 09

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