Spaziergängern können sie durchaus auffallen im Greußenheimer Wald. Buchstaben, einzeln oder auch in Paaren, W, H, HB, KE, VE, wild durcheinander, wie es scheint, nicht selten wie hingeschmiert; hier und dort auch Zahlen, 5, 7, 163, in Baumrinde geritzt, nicht frisch geschnitten, sondern längst verheilt, vor langer Zeit, wie es scheint. . .
Unwillkürlich fragt man sich: Was soll das? Was bedeutet es? Und: Wer hat diese Markierungen hinterlassen? Doch wie man auch sinnt und grübelt, so recht einen Reim kann man sich auf den Sinn der Buchstaben und Zahlen auf den Bäumen nicht machen.
Sind es womöglich Botschaften ewiger Liebe? Doch um Liebesbezeugungen kann es sich nicht handeln, Herzen sind nicht dabei. Was aber stellen sie dann dar? Des Rätsels Lösung liegt fern aller Emotionen, es geht um Orientierung: Die Initialen wurden von Grundstückseigentümern in den Bäumen hinterlassen, damit sie ihre Waldgrundstücke wiederfinden.
Die Buchstaben sind die Initialen der Besitzer, die Zahlen Hausnummern, die bis in die Siebzigerjahre in Greußenheim noch fortlaufend vergeben wurden, somit nur einmal in der Gemeinde vorkamen und daher ebenfalls eine gute Markierung abgaben.
Rudolf Dürr (68) und Karl Lother (65) kennen die Geschichte der Markierungsbäume im Greußenheimer Wald gut. Der erste ist Landwirt und Feldgeschworenen-Obmann in Greußenheim, der andere Vermesser a.D. des Vermessungsamtes Würzburg. Beide sind in der Vorstandschaft des Waldflurbereinigungsverfahren der Teilnehmergemeinschaft Greußenheim 4.
Die fränkische Realteilung der Vergangenheit hatte auch in Greußenheim zu kleinen, schmalen Grundstücken geführt, erklärt Karl Lother. Realteilung, das bedeutete die Aufteilung eines Grundstückes unter den Erben. Diese wurde über viele Generationen angewandt und führte im Privatwald zu äußerst kleinen Grundstücken, die nach der Teilung nicht vermarktet wurden. Die Grundstücksteilung wurde nur bildlich in Plänen festgehalten. Durch das sogenannte Repartieren – einer gleichmäßigen Verteilung prozentual auf eine Strecke – konnten die Feldgeschorenen die Grundstücke bestimmen.
869 Besitzstrukturen, 735 beteiligte Besitzstände, 1148 Personen bei 4664 Flurstücknummern hatte Greußenheim im Wald im Jahr 2002, als die Waldflurbereinigung begann. Kaum jemand kannte bis dahin seine Besitzgrenzen und wusste deshalb auch nicht genau, ob er sich auf seinem Grundstück oder schon auf dem Nachbargrundstück befand. „Vor der Waldbereinigung“, erzählt Dürr, „kamen die Grundstücksbesitzer auf die Feldgeschworenen zu und sagten ,zeig mir mal mein Grundstück‘.“ Verständlich, wenn man weiß, dass die Waldflurbereinigung eine Fläche insgesamt von 434,74 Hektar mit insgesamt 357,11 Hektar Wald umfasst.
Die Feldgeschworenen konnten helfen, wenngleich auch sie die Grenzen nur anzeigen konnten, wie sie in den Grundbüchern als rein bildliche Darstellung der Teilung aufgeführt waren – und diese zeigten über die Generationen natürlich Differenzen auf.
Sichtbar gemacht wurden die Grenzen dagegen wesentlich deutlicher anhand von markierten Bäumen oder so genannten Läufersteinen. Diese waren von den Feldgeschworenen entlang der gedachten Grenzlinie gesetzt worden. Sie dienten nur der Orientierung, sind also keine Grenzsteine. Da dieses Verfahren aufwendig und teuer war, konnten es sich nicht viele Waldbesitzer leisten.
Stattdessen behalfen sich die Waldbesitzer, indem sie jene Bäume, die in der Nähe der Grenzen ihres Grundstückes standen, markierten. Dieser Orientierungspunkt führte sie zu den Grundstücksgrenzen die sie durch sogenannte „Stoffe“ – Eckhiebe, kleine Vertiefungen in L-Form – anzeigten. Um diese Eckpunkte wieder zu finden, wurden die Bäume mit Hilfe eines kleinen „Hufmessers“ mit den Initialen des Besitzers oder auch dem Familien-Zeichen markiert. In den seltensten Fällen waren die markierten Bäume „Eckbäume“. War wirklich mal ein Baum ein „Eckbaum“ so wurde er zusätzlich an der Grenzseite „platt“ gemacht. Was bedeutet, dass die Rinde des Baumes an der Grenzseite zusätzlich durch Querstriche markiert wurde. Diese imaginären Grenzlinien wurden von den Besitzern durch regelmäßiges Begehen kontrolliert. Das Markieren der Bäume erfolgte in einem Flurgebiet immer auf der Seite des Baumes, die der Begehung des Waldes zugewandt war, so dass er beim „Begehen“ sofort gesehen wurde.
Rudolf Dürr ist als Kind mit seinem Großvater und Vater die Waldstücke regelmäßig in den schneefreien Wintermonaten abgelaufen. Einen der Bäume hat schon sein Vater mit seinen Initialen gekennzeichnet. Und sein Großvater und Urgroßvater. Heute, so Dürr, befinden sich Initialen von vier Generationen auf dieser Buche. Und die Tradition wird weiter gegeben. Wenn Rudolf Dürr heute im Wald die Grundstücke abläuft, „sind meine Söhne und Enkelkinder dabei“. Mindestens einmal im Jahr ist der Waldbesitzer seine Grundstücke abgelaufen, hat die „Eckhiebe“ ausgebessert, den Waldbestand kontrolliert, „das Wissen“ um die Grundstücke weitergetragen. Auch das um das Anbringen der Initialen, um die richtige Behandlung der Rinde. Damit der Baum keinen Schaden nimmt. Wildes Drauflosritzen, falsches Ansetzen eines Messers kann ihm schaden. Gelangen Schädlinge wie Pilze und Insekten über Verletzungen der Rinde in den Stamm, kann dieser gar absterben.
Das Waldflurbereinigungsverfahren geht langsam in die Endphase, ist es abgeschlossen, gehören die Orientierungshilfen auf den Bäumen der Vergangenheit an, werden sie zu stummen Zeitzeugen im Wald.