Es war ein guter Plan, den sich die 17-jährige Kim Wößner zurechtgebastelt hatte: erst der Sprung in den Bundeskader und dadurch die Qualifikation für die Weltmeisterschaft, dann das Abitur und danach ab zur Weltmeisterschaft nach Amerika und dort im Anschluss noch ein bis zwei Wochen Urlaub verbringen. Wie es danach weitergegangen wäre, "darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht", sagt Kim, Rhönradturnerin der TSG Estenfeld und eines der größten Talente des Vereins.
Das war ihr Plan A, einen Plan B gab es nicht. Mittlerweile gibt es diesen Plan B indirekt wohl doch: Durch die Corona-Pandemie ist auch für die Abiturientin alles anders geworden. Noch bis vor einigen Wochen war das Leben der 17-Jährigen während der Schulzeit sehr strukturiert: montags, mittwochs und freitags je zwei Stunden Rhönradtraining, dienstags und donnerstags Fitness-Studio, samstags Teenager-Dasein (also Treffen mit Freundinnen) oder Lernen, sonntags chillen. Jetzt aber ist die Schule geschlossen, gelernt wird übers Internet, Treffen mit Freundinnen sind ausgeschlossen, und auch das Rhönrad muss bis auf Weiteres eingemottet werden. Und: Nachdem schon die Qualifikation abgesagt wurde, ist auch die Weltmeisterschaft auf irgendwann im Sommer 2021 verschoben worden.

Lernen fürs Abi
Zumindest für eines dürfte jetzt mehr Zeit sein: zum Lernen fürs Abitur, das sie in Würzburg im St.-Ursula-Mädchengymnasium ablegen will. Die mündlichen Fächer würden derzeit daheim noch diskutiert, sagt Kim, die mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Sarah bei der Mutter Manuela in Estenfeld lebt.
Im "normalen Leben" hat Kim auch einiges an Hobbies. Handball zum Beispiel oder auch mal mit den Freundinnen ins Dallenbergbad gehen und sich über die "üblichen Mädchenthemen" unterhalten. Oder Lesen, wie viele Teenager auch Harry Potter oder auch mal mystische Geschichten. In letzter Zeit war allerdings nur noch Rhönrad angesagt und "beim Lesen eher die Schullektüre".
Ein ganz normaler Teenager also? "Aber ja", sagt die Mutter. Da komme es auch mal zu den üblichen Reibereien zwischen Mutter und Tochter: "Da knallen auch mal die Türen, und wenn es besonders schlimm ist, schicke ich sie zum Abreagieren zum Sport." Das klappt normalerweise auch gut. Nur: der Stillstand im Sport trifft auch den Einzelsport Rhönrad. Auch das Fitnessstudio, in dem sich Kim fit hält, ist geschlossen. "Da bleibt nur noch das Laufen, um fit zu bleiben", sagt sie.
Fit sein fürs Rhönrad
Doch wofür, außer für die persönlichen Fitness? "Selbst wenn die Qualifikation, die in zwei Runden ausgetragen worden wäre, nur verschoben worden wäre, so merkt man doch allein zwei Wochen Osterferien. Dann muss man erstmal üben, um wieder auf den Stand von vor den Ferien zu kommen", erklärt sie. Nicht nur für Kim, sondern für alle Rhönradturner ist der Traum von der Quali für die WM ins nächste Jahr verlegt worden. Wann der reguläre Trainingsbetrieb wieder aufgenommen werden kann, weiß derzeit niemand.

Immerhin steht für dieses Jahr noch die Deutsche Meisterschaft auf dem Programm, für die sie bereits qualifiziert ist. Sonst sind es gleich mehrere Titel pro Jahr, die dafür sorgen, dass Kim regelmäßig beim Neujahrsempfang der Gemeinde eine der längsten Einzelehrungen bekommt. "Das hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe mich daran gewöhnt", sagt sie mit Blick auf den Empfang im vergangenen Januar, als der zweite Bürgermeister Joachim Sadler ohne seine Notizen mit Sicherheit den ein oder anderen Titel bei seiner Aufzählung vergessen hätte
Die Leidenschaft fürs Rhönrad begann für Kim schon mit fünf Jahren. Damals hatte sie ihre große Schwester zum Training begleitet und war so begeistert, dass ihre Mutter sie sofort anmelden musste. "Kim ist eine außergewöhnliche Turnerin. Sie hat ein sehr gutes Gefühl fürs Rhönrad und wird es im sportlichen Leben weit bringen", sagt ihre aktuelle Trainerin Anja Suchanek. Leider nicht so weit, dass sie irgendwann mal als Profi turnen und davon leben könnte. Das sei in diesem Sport schlichtweg schwierig, selbst für jemanden wie die Bundestrainerin und ehemalige Weltmeisterin im Rhönrad, Katja Homeyer, weiß Kim.
Prall gefüllter Fresskorb fürs Turnier
Homeyer bietet immer wieder Trainingsstunden in ihrem Heimatverein in Taunusstein - der Hochburg des deutschen Rhönrad-Sports- an. "Aber für eine Stunde Training mussten wir fast drei Stunden hin und drei Stunden wieder zurückfahren, da lohnt sich der Aufwand nicht wirklich", sagt Manuela Wößner, die bei der ganzen Turnerei ihrer Töchter eine nicht ganz unwichtige Aufgabe übernommen hat. Sie versorgt nämlich die Turnerinnen, Trainer und die Begleiter bei Wettkämpfen mit einem "prall gefüllten Fresskorb mit vielen leckeren Dingen darin", schwärmt die Tochter.
Um wieder in den Genuss dieses Fresskorbes zu kommen, müssten die Turniere wieder stattfinden. Wann genau das der Fall sein wird, ist derzeit noch ungewiss. Somit bleibt Kim momentan nur das Lernen fürs Abi, wobei sie sich über das Bestehen keine Sorgen macht. Vom Notenschnitt her, sagt sie über sich selbst, "könnte es schon ein bisschen besser sein, ich bin noch nicht ganz zufrieden". Ganz zufrieden mit sich selbst, sagt ihre Mutter, sei Kim eigentlich niemals, weder im Sport noch in der Schule. "Sie schraubt ihre Ansprüche an sich selbst sehr hoch. Ich hingegen bin mit den Schulnoten sehr zufrieden", so Manuela Wößner.
Das RhönradDas Rhönrad-Turnen ist eine Sportart, die jeweils mit einem beweglichen Turngerät durchgeführt wird. Das Rhönrad wiegt zwischen 40 und 60 Kilogramm und setzt sich aus zwei parallelen Stahlreifen zusammen, die durch Sprossen miteinander verbunden sind. Sowohl der Sportler als auch das Gerät bewegen sich gemeinsam auf einer ebenen Oberfläche. Der Turner nutzt das Rhönrad als Hilfsmittel, um typische Turnelemente bzw. tänzerische Bewegungen darin, darauf oder daneben auszuführen. Ähnlich mit dem so genannten Cyr Wheel, das nur aus einem Reifen besteht. Etwa 5900 Turner sind in 221 Sportvereinen in Deutschland aktiv. Deutschland ist die stärkste Rhönrad- und Cyr Wheel-Nation der Welt. Bisher führten deutsche Sportler die Medaillenbilanzen bei Weltmeisterschaften in diesen Sportarten an. Seit 1959 ist Rhönradturnen im Deutschen Turnerbund integriert. Die Turner müssen drei Disziplinen beherrschen: Geradeturnen, Spiraleturnen und Sprung. Beim Spiraleturnen bewegt sich das Rad auf einem der Reifen, es tellert quasi wie eine Münze, und es muss vom Turner wieder "aufgerichtet" werden. Beim Sprung wird das Rad mit Schwung angeschoben, der Turner lässt sich vom Schwung seines Mitlaufens in das Rad ziehen. Daneben gibt es für Paare die Disziplinen Partnerturnen, Synchronturnen und Partnerspirale. Taunusstein in Hessen gilt als das Zentrum des deutschen Rhönradturnens, ähnlich wie Tauberbischofsheim für die Fechter. (Quelle: www.dtb.de/rhoenradturnen, Wikipedia).