Bei eingefleischten Würzburgern taucht hin und wieder die Meinung auf, dass es dem Stadtrat und der Verwaltung mitunter an Weitsicht fehle, doch ist eine solche Betrachtungsweise eher kurzsichtig, zumindest, wenn man sich in den jüngeren Beschlüssen des Stadtrates umsieht. Da hat sich nämlich der Bau- und Ordnungsausschuss einmal ordentlich mit einem Bauprojekt beschäftigt, das schon einen gewissen Durchblick erfordert, nämlich eine Aussichtsplattform in der weltberühmten Weinlage Würzburger Stein.
Vor Jahren war diesbezüglich schon einmal der Verein Stein-Wein-Pfad vorstellig geworden und wollte oben an der Rotkreuzsteige eine Betonröhre hinbetonieren, einen sog. „magischen Ort des Frankenweins“, doch waren die Antragsteller letztlich die einzigen, die in die Röhre geschaut haben.
Nun also hat es einen zweiten Anlauf gegeben, und herausgekommen ist dabei ein „Literaturbalkon“. Aus Sicht des Vereins soll damit ins Blickfeld gerückt werden, welche Poeten sich am Stein schon so alles verbal vergriffen haben, wie z.B. Goethe, auf den seinerzeit sogar die Engländer einen respektvollen Blick geworfen hatten, weil er für sie nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern vor allem „der tüchtigste Zecher in Deutschland“ war.
Jetzt sollen also nach dem Willen des Stein-Vereins zwischen den Reben 17 Stelen aufgestellt werden, umringt von dem Literaturbalkon, und wenn man darauf die richtige Position gefunden hat, fällt der Blick plötzlich auf das Gesicht eines Poeten und dem eigenen entfleucht ein staunendes „Aha!“. Zu erwähnen wäre dabei noch, dass das Ganze ein Teil des staatlich geförderten Weintourismusprojektes „terroir f“ ist. Das erste Wort steht dabei für Standort, das f für Franken.
Dieser Tage kam nun der Literaturbalkon im Stadtrat auf den Tisch, und der erste, der seine Sichtweise sichtbar machen wollte, war ein gewisser Jüstel von der SPD-Fraktion, der das Projekt als „Terror F“ und als überflüssig bezeichnete, weil man auch so vom Stein auf den Main gucken könne. Vom Stadtbaurat Baumgart hat er dafür eine verbale Watsche bekommen, denn schließlich zeigt eine solche Sicht der Dinge nicht allzu viel Durchblick und schon gar nicht Weitblick, selbst wenn der bis Randersacker reichen sollte.
Nein, hier braucht es dringend eine Korrektur der Sichtweise. Schließlich bietet dieser Literaturbalkon Besuchern nicht nur ein paar lebendige Momente mit toten Literaten, sondern auch die Gelegenheit, sich selbst einmal einen Reim darauf zu machen, was die Stadt da unten so alles treibt und dass sich in Würzburg einiges bewegt: der Main und das Riesenrad beim Volksfest auf der Talavera, z.B.
So könnte man am Literaturbalkon mit zwei weiteren Stelen den Blick auf das Ämterhochhaus in der Augustinerstraße richten und ein Gedicht dazu dichten: „Hier stehe ich, ich alter Tor, und bin marode wie zuvor“. Oder man könnte sich vom Literaturbalkon aus einen Reim machen auf das, was der neue Investor dort vorgeschlagen hat, denn das ist echt ein Gedicht: Er will nämlich einen Neubau in alter Form errichten und hat dabei die Naturschützer begeistert, weil er die Fassaden begrünen will. Am Literaturbalkon könnte man dann nachlesen „Es grünt so grün, wenn Schnapsideen blühn“. Oder vielleicht auch: „Ohne Moos nix los“.