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HÖCHBERG: Zehn Jahre Inklusion als Menschenrecht: So kann es klappen

HÖCHBERG

Zehn Jahre Inklusion als Menschenrecht: So kann es klappen

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    Im Unterricht hilft der Schulbegleiter dem jungen Samuel dabei, sich zu konzentrieren.
    Im Unterricht hilft der Schulbegleiter dem jungen Samuel dabei, sich zu konzentrieren. Foto: Lukas Will

    In der zweiten Stunde der Klasse 8aM an der Mittelschule Höchberg steht Mathematik auf dem Stundenplan. Klassenlehrer Thomas Müller geht mit den Schülern die Aufgaben im Mathe-Buch durch: „Welche ist die größte, negative dreistellige Zahl?“ Samuels Hand schnellt sofort nach oben. Der 15-Jährige weiß die Antwort – so wie fast immer. Mathe ist sein Steckenpferd, doch auch in anderen Fächern bringt er gute Noten nach Hause. Noch vor zwei Jahren war das ganz anders. Samuels Leistungen verschlechterten sich auf der damals besuchten Realschule, er drohte durchzufallen. An mangelnder Begabung lag das nicht. Samuel ist Autist mit Asperger-Syndrom und hat einige ganz spezielle Bedürfnisse. Auf seiner neuen Schule, der Mittelschule in Höchberg (Lkr. Würzburg), wird er aller Voraussicht nach seine mittlere Reife machen. Drei Umstellungen haben die Inklusion ermöglicht und für Samuel das Blatt zum Guten gewendet.

    Erste Umstellung: Hermann Seubert

    Die erste Umstellung war die Einführung von Samuels persönlichem Schutzengel: Schulbegleiter Hermann Seubert aus Retzbach (Lkr. Main-Spessart). Der 58-Jährige ist seit drei Jahren Samuels Banknachbar. Während des Unterrichts achtet der ehemalige Dienststellenleiter bei der Deutschen Bahn darauf, dass sich der Autist auf den Lernstoff konzentriert und nicht in seinen Gedanken abschweift. „Ich sage ihm nicht die Antwort vor, sondern ich helfe Samuel nur, sich zu konzentrieren“, sagt Hermann Seubert.

    Dabei braucht er viel Fingerspitzengefühl, schließlich darf auch er dabei nicht den Unterricht stören. Für Klassenlehrer Thomas Müller war es anfangs ungewohnt, plötzlich einen 58-Jährigen vor sich sitzen zu haben. „Man fühlt sich vielleicht etwas beobachtet“, meint der Lehrer schmunzelnd. Aber schon bald habe er den Schulbegleiter nicht mehr missen wollen. „Es hat jetzt auch mal eine Woche ohne ihn funktioniert. Aber sobald neue Probleme auftauchen, wäre das schlecht.“ Thomas Müller kann sich nicht mal eben fünf Minuten nur um Samuel kümmern – schließlich hat er eine ganze Klasse zu betreuen. Auch dass der Schulbegleiter die Kommunikation mit den Eltern übernommen hat, nimmt dem Lehrer einiges an Aufwand ab.

    Die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schulbegleiter funktioniert hier gut, denn es „passt zwischenmenschlich“, sagt Thomas Müller.

    Kein Pädagoge, aber trotzdem qualifiziert

    Mit diesen Worten lässt sich auch das Verhältnis zwischen Hermann Seubert und Samuel am besten beschreiben. Als der Schulbegleiter, der von einem Sozialdienst eingeteilt und vom Bezirk Unterfranken finanziert wird, Samuel in dessen Elternhaus kennenlernte, verstanden sich die beiden auf Anhieb. „Nach einer halben Stunde ist Samuel schon auf ihm rumgeklettert“, berichtet Samuels Mutter Anette Aloe aus Kist (Lkr. Würzburg). Das sei schon etwas Besonderes gewesen. „Man hat von Anfang an gemerkt, dass die zwei gut harmonieren.“

    Schulbegleiter Hermann Seubert (rechts) betreut den 15-jährigen Autisten Samuel Aloe an der Mittelschule in Höchberg (Lkr. Würzburg). Klassenlehrer Thomas Müller ist froh über diese Unterstützung.
    Schulbegleiter Hermann Seubert (rechts) betreut den 15-jährigen Autisten Samuel Aloe an der Mittelschule in Höchberg (Lkr. Würzburg). Klassenlehrer Thomas Müller ist froh über diese Unterstützung. Foto: Fotos: Lukas Will

    Obwohl Hermann Seubert kein ausgebildeter Pädagoge ist, kann er gut mit Kindern umgehen – er hat selber mehrere großgezogen und ist inzwischen Großvater von sechs Enkelkindern. Erfahrung mit Autisten hat er schon als Schulbegleiter in einer Behindertenschule und einem Gymnasium gesammelt sowie sich selber mit Fachliteratur, Seminaren und Filmen fortgebildet. Ihn erfüllt die Arbeit als Schulbegleiter: „Durch Engagement erreicht man sehr viel – und bekommt auch viel zurück.

    “ So dauerte es nicht lange, bis der 58-Jährige und Samuel sich eingespielt haben. Hermann Seubert versteht, was im Kopf des Schülers vorgeht, wie der 15-Jährige in bestimmten Situationen reagiert und wie er ihm helfen kann.

    Die Welt aus den Augen eines Autisten

    Autisten wie Samuel nehmen die Welt mit anderen Augen wahr. Der Umgang mit anderen Menschen ist für den Teenager eine täglich neue Herausforderung, denn es fällt ihm schwer, sich mitzuteilen und die Reaktionen anderer Menschen richtig zu deuten. „Bei neuen Menschen bin ich eher verschlossen und versuche erst mal, denjenigen einzuschätzen“, erklärt Samuel selbst. Was bei Menschen ohne Asperger in Sekundenbruchteilen unterbewusst geschieht, muss Samuel erst mühsam entschlüsseln. Nicht nur versteht er seine Mitmenschen schlecht, auch haben diese wiederum Probleme ihn zu verstehen. „Samuel spricht etwas undeutlich und recht langsam. Er muss sich die Worte erst zurechtlegen“, erklärt seine Mutter. Oftmals verliert er dabei den Faden, schweift ab. Viele Menschen haben nicht die erforderliche Geduld im Umgang mit Samuel und brechen das Gespräch zu schnell ab, erzählt Anette Aloe. Das macht es für den Jungen schwer, soziale Kontakte zu knüpfen.

    In seiner früheren Schule wurde Samuel deswegen als Außenseiter gesehen und gemobbt. „Das war nicht schön“, sagt Samuel, der nicht gerne an diese Zeit zurückdenkt. Heute kommt er im Sozialgefüge der Schule besser zurecht. Schulbegleiter Hermann Seubert hat die Nachbarklassen besucht und mit Samuels Mitschülern über dessen Krankheit gesprochen. Seitdem kommt es kaum noch vor, dass der Autist für sein Verhalten gehänselt wird. Und wenn doch, dann ist der 58-Jährige in der Nähe und kann einschreiten. „Ich mache zwar viele Scherze mit den anderen Kindern und sie mögen mich, aber haben sie auch Respekt vor mir“, sagt Hermann Seubert. Dies gibt Samuel die nötige Sicherheit, um wieder gerne in die Schule zu gehen. „Ich sehe mich als Bindeglied zwischen Samuel, den Lehrern und den Schülern“, sagt der Schulbegleiter. Die Kommunikationsprobleme wurden so entschärft.

    Zweite Umstellung: Klassengröße

    Neben den Kontaktschwierigkeiten war Samuels zweites großes Problem die laute Umgebung in der Schule. Autisten können schnell von Sinneseindrücken überfordert sein, ohne inneren Filter prasselt die Umwelt auf sie ein. So ist es auch bei Samuel, der in den Pausen, wenn die anderen Kinder spielen, lieber etwas abseits steht. Das Problem der ablenkenden Umgebung löste sich durch den Schulwechsel von alleine, denn in Samuels neuer Klasse werden nun etwa ein Drittel weniger Schüler als damals auf der Realschule unterrichtet. Und wenn es Samuel doch zu viel wird, kann Hermann Seubert mit ihm eine ruhige Umgebung aufsuchen.

    Dritte Umstellung: Klassenlehrer

    Der dritte Faktor, weshalb bei Samuel die Inklusion nun funktioniert, ist ein gleichmäßigerer Tagesablauf als früher. Autisten brauchen routinierte, sich wiederholende Tätigkeiten und haben im Gegenzug Probleme, flexibel zu sein. „Spontane Änderungen sind bei ihm eher unbeliebt“, sagt Samuels Mutter. Dann müsse man ihm schon genau erklären, warum sich etwas unvorhergesehen ändert, damit er das akzeptieren kann. Auf der Realschule wechselten die Lehrer mit dem Fach – das war für Samuel zu viel Varianz im Tagesablauf.

    Nun hat er mit Thomas Müller einen Klassenlehrer, der gleich mehrere Fächer unterrichtet und bis zu zehn Stunden in der Woche in der Klasse ist. Diese Kontinuität erleichtert es Samuel, den sich ohnehin immer wieder mal ändernden Tagesablauf zu bewältigen.

    Mutter will keine Sonderschule

    Ein Schulbegleiter, ein ruhiges Umfeld und ein gleichmäßiger Tagesablauf – diese drei Voraussetzungen ermöglichen Samuel wohl die mittlere Reife an einer Regelschule. Zwar gibt es auch Förderschulen, an denen diese Voraussetzungen gegeben sind, doch wollte Samuels Mutter nicht diesen Sonderweg für ihren Sohn. „Dort wäre er unterfordert gewesen“, meint sie. „Ich finde es besser, wenn er Kontakt mit nicht autistischen Kindern hat, weil er sich da viel abschauen kann.“ Später solle Samuel ein Leben weitestgehend ohne Einschränkungen führen können, einen Beruf ausüben, eine Frau kennenlernen. Eine institutionelle Sonderbehandlung wäre da wenig förderlich, meint die Mutter. Zudem entspricht der Besuch einer normalen Schule Samuels Willen. „Kinder wünschen sich am meisten, so angenommen zu werden, wie sie sind“, sagt Anette Aloe.

    Schulbegleiter Hermann Seubert (aus Retzbach) betreut den 15-jährigen Autisten Samuel Aloe aus Kist an der Mittelschule in Höchberg. FOTO Lukas Will
    Schulbegleiter Hermann Seubert (aus Retzbach) betreut den 15-jährigen Autisten Samuel Aloe aus Kist an der Mittelschule in Höchberg. FOTO Lukas Will Foto: Lukas Will

    So sei das auch bei ihrem Sohn. „Samuel will so akzeptiert werden, wie er ist. Er will dazugehören.“ Das Recht dazu hat er, denn Inklusion ist Bestandteil der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die auch in Deutschland gültig ist.

    Die bisher erreichten Erfolge haben Samuels Mutter gezeigt, dass die Familie den richtigen Weg eingeschlagen hat. „Seit Hermann mit ihm in die Schule geht, ist Samuel viel selbstständiger geworden“, sagt sie. Auch müsse sie nun nicht mehr während die Kinder in der Schule sind, bangen, ob alles gut gehe oder Samuel nicht doch wieder abgeholt werden muss, weil ihn alles überfordert. Selbst wenn Hermann Seubert mal für ein paar Tage nicht da ist, laufen diese inzwischen meist ohne Zwischenfälle ab. Das freut Samuels Mutter besonders: „Das ist nachhaltig und das ist gut, denn später soll Samuel ohne Betreuer durchs Leben gehen können.“

    Schulbegleiter Ein Schulbegleiter kann Kindern und Jugendlichen mit Behinderung den Besuch einer Regelschule ermöglichen. In der Regel sind Schulbegleiter keine ausgebildeten Fachkräfte. Derzeit trägt der Bezirk Unterfranken die Kosten für Schulbegleiter von 548 Kindern. Für die Kostenübernahme müssen die Erziehungsberechtigten einen Antrag einreichen, Sozialdienste wie ASB, MHD, BRK oder gfi stellen Schulbegleiter zur Verfügung. Eltern können auch ohne Sozialdienst einen Schulbegleiter anstellen, die Kosten trägt der Bezirk. Neben den vom Bezirk bezahlten Schulbegleitern übernehmen die örtlichen Jugendämter die Kosten für Schulbegleiter von seelisch behinderten Kindern.   

    Inklusion Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen fordert Inklusion, also für alle Menschen eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Ein Mensch mit geistigen, körperlichen oder psychischen Einschränkungen soll sich nicht anpassen, integrieren müssen, sondern gehört – so wie er ist – mitten in die Gesellschaft. Dazu gehört inklusive Bildung: Schüler sollen gemeinsam in einer Regelschule lernen. Die Konvention wurde am 13. Dezember 2006 beschlossen und ist im Mai 2008 in Kraft getreten. In Deutschland ist die Konvention am 26. März 2009 verbindlich geworden. lw/dpa

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