Die erste große Radetappe seines Lebens führte Karl Raab als 18-Jährigen vom heimischen Oberlauringen (Lkr. Schweinfurt) nach Würzburg. Mehr als 60 Kilometer. Bei Gegenwind. Mit dem heimischen Haus- und Hofrad, wie der später erfolgreiche Radsport-Amateur sich heute noch erinnert. Der 88-Jährige hatte damals, Anfang der 1950er-Jahre, auf eine Stelle als Schreiner geschielt. Um 17 Uhr kam er in Würzburg an – vergebens. Er hätte sich schriftlich bei der Firma bewerben müssen.
Nach einer Nacht in einer Gastwirtschaft stieg Raab wieder aufs Rad und fuhr früh morgens durch Würzburg. "Da habe ich ein Schild gesehen, auf dem stand: 'Stuttgart 170 Kilometer'." Und weil er am Vortag schon 60 Kilometer geschafft hatte, obwohl er erst mittags losgefahren war, entschied er sich, nach Baden-Württemberg zu fahren. Natürlich mit dem heimischen Haus- und Hofrad. Dort fand er dann auch Arbeit.

Rund 70 Jahre später hat Karl Raab, blaues Polo-Shirt, roter Pullunder, ein Fotoalbum zum Treffen mit dieser Redaktion mitgebracht. Ein Rad-Fanklub aus Oberlauringen hatte den Anstoß dazu gegeben. Dabei sind auch Raabs ehemalige Radsport-Kollegen und heutige Freunde Hugo Popp und Ernst Lang.
In dem Album kleben Bilder, die allermeisten schwarz-weiß, einige beschriftet, auf denen Ausschnitte aus der Radsport-Karriere des Trios zu sehen sind. Von deutschen Meisterschaften, von Weltmeisterschaften, von der Arbeit als Einfahrer bei Fichtel & Sachs. "Da muss ich dem Karl jetzt auch mal über die Schulter schauen", sagt Lang neugierig während des Gesprächs und stellt sich hinter seinen Freund.
Der Mensch, der Raab und Co. einst für den Radsport begeistert hat, war Edi Ziegler. Der gewann 1952 bei den Olympischen Sommerspielen in Helsinki die Bronzemedaille im Straßenrennen. Raab las davon in der Zeitung. Zudem fragte ihn ein politischer Flüchtling aus Ost-Berlin, der in Oberlauringen untergekommen war, ob er nicht Lust hätte, einem Bekannten bei einem Radrennen am Münnerstadter Berg zuzusehen. Auf dem Rückweg war der Berliner so überrascht von Raabs Leistungsvermögen – sie waren mit dem Rad angereist –, dass er ihn animierte, sich um ein eigenes Fahrrad zu bemühen.
1957 kam Karl Raab bei Fichtel & Sachs unter und zog nach Schweinfurt
Raabs Radsport-Karriere kam aber erst ein paar Jahre später in Essen so richtig in Gang. Denn dort – er war mit seiner Schwester ins Ruhrgebiet gezogen – konnte er arbeiten und endlich für ein vernünftiges Fahrrad sparen. Zwar hätte er zuvor eines von seinem Vater bekommen können, berichtet er, aber der Papa hätte das Rad auch benutzen wollen. "Da ist mir natürlich die Klappe runtergefallen, das ging überhaupt nicht", sagt Raab.
So fuhr er dann erst ein paar Jahre später, 1955, im Westen seine ersten Rennen. "Ich war auch gleich erfolgreich", sagt er. Der Blick des Sportlers richtete sich aber schnell nach Unterfranken. "Mein Ziel, und das Ziel von allen Radfahrern, die ich kannte, war Schweinfurt. Fichtel & Sachs hat eine Gruppe gehabt, die die Naben eingefahren hat." Die Einfahrer. Da habe jeder hingewollt, sagt Raab. "Weil man da Rad fahren und trainieren konnte."
Der Radsportler erkundigte sich beim heutigen Automobilzulieferer nach einer Stelle, doch es war nichts zu machen. Erst 1957, nach einem guten Auftritt bei einem Rennen in Mellrichstadt, kam er bei Sachs unter. Allerdings zunächst in der Fabrik. Nach einem halben Jahr – inzwischen hatte Raab in Schweinfurt beim RV 1889 mit dem Radfahren begonnen und "die Becherfahrt und so ein Zeug" gewonnen – kam er dann tatsächlich zu den Einfahrern. "Da sind wir jeden Tag Rad gefahren und am Wochenende die Rennen."

Auch Popp (85) und Lang (83) waren bei den Einfahrern dabei. "Das war natürlich optimal", sagt Popp. "Wir konnten abends ins Kino, und die anderen mussten erst mal das Trainieren anfangen." Mehrere Tausend Kilometer mussten die Radnaben eingefahren werden, das sei so Vorschrift gewesen, sagt Lang. Im Sommer 120 Kilometer am Tag, im Winter 80. "Das war unsere Arbeit", sagt Raab. Richtig nutzen können, um noch besser zu werden, habe das Trio die vielen Kilometer aber nicht. "Da hat eine Person gefehlt, die ein richtiges Programm aufstellt", erklärt Popp.
Der 85-Jährige startete seine Radsport-Karriere mit knapp 18 Jahren. Auch er wurde von Edi Ziegler beeinflusst. "Den hat jeder gekannt, der sich mit dem Fahrrad bewegt hat", sagt er. Sein erstes Rennen war ein Rundstreckenrennen, bei dem er sich mal ausprobierte. Erst als er las, dass ein anderer Schweinfurter der beste Fahrer beim RV 89 sei, packte ihn den Ehrgeiz. "Ich dachte mir: 'Den habe ich doch damals schon abgehängt.' Das hat mich angestachelt, und ich habe mir gedacht, da muss ich was machen." Er hatte einen Rahmen, lieh sich einen Sattel, und es konnte losgehen mit dem ersten Training.
Die drei Männer haben dem Sport ihre Freundschaft zu verdanken
Es folgten erste Jugendrennen, 1957 der Umstieg in den Amateurbereich, ein schneller Aufstieg bei den Männern. "Es hat alles gepasst. Ich habe Karl getroffen, solange er gefahren ist, haben wir uns ein Zimmer geteilt", erzählt er. "Die Freundschaft ist bis heute erhalten geblieben."
Zu Lang war der Kontakt zwischendurch etwas verloren gegangen. Umso mehr, sagt dieser, freue er sich, dass sich nun alle wieder getroffen haben. Schließlich wisse man nie, wie lang man sich noch unterhalten könne. Das wird spätestens in dem Moment greifbar, als Raab ein altes Mannschaftsfoto im Buch aufschlägt. "Der tot, der tot, der tot."
Und neben der Freundschaft, da sind sich die drei einig, ist noch etwas vom Radsport fürs Leben hängen geblieben: das Wissen, dass es immer nach vorne geht, wenn man sich reinhängt.

Radprofi wurde keiner der drei, wenngleich Raab 1961 auch bei der Tour de L'Avenir dabei war – der Tour de France für Amateure. Beim damaligen Vereinsvorsitzenden des RV 89, der mit Torpedo Schweinfurt auch ein Profi-Team leitete, habe er nachgefragt, wie es aussieht, erzählt er. "Der hat mir gesagt: 'Du bist gut. Aber um es bei den Profis zu schaffen, braucht man auch einen guten Arzt.'" Doping, schon damals ein Thema. "Da habe ich gesagt, dann höre ich auf", sagt Raab. 1961 fuhr er sein letztes Rennen, von einem Tag auf den anderen hörte er auf.
Zu den Erfolgen der drei Männer zählen bayerische Meistertitel, Siege bei "Rund um Frankfurt" und Teilnahmen an Weltmeisterschaften der Amateure im Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Noch heute denkt Popp an seine Rennen zurück, wenn er draußen unterwegs ist. "Warum es hier an der Stelle nicht geklappt hat oder warum es da geklappt hat", sagt er. "Das lässt nicht los. Das lässt nicht los."