Am Samstag wird er 80 Jahre, mein Held, mein Vorbild. „Uns Uwe“ Seeler, Deutschlands großes Mittelstürmer-Idol, wollte und wird diesen Tag nicht besonders stürmisch feiern. Schon seit Wochen, ja Monaten hielt er den Ball immer flach: „Warum sollte es eine große Feier geben? Ich habe doch nur Fußball gespielt.“ Er wird diesen Tag in einem Restaurant und im Volksparkstadion verbringen. Im Kreise seiner Familie und seiner Freunde – und bei seinem HSV, für den er ein Leben lang gespielt hat. Dass ihm sein Verein ein besonderes Geburtstagsgeschenk bereiten wird, indem er das Heimspiel gegen Borussia Dortmund gewinnt, daran glauben im Moment nur die größten Optimisten in Hamburg, ob Uwe es glaubt, ist sein Geheimnis. Es ist wieder einmal schlimm um den Bundesliga-Dino bestellt, und an der Elbe mehren sich die mitleidigen Stimmen: „Einen solchen Absturz des HSV hat der Uwe nun wirklich nicht verdient, es täte mir leid für ihn.“
Am 10. Oktober 1958 durfte ich als Zehnjähriger den jungen Seeler, damals 21 Jahre alt, zum ersten Mal live sehen. Mein Onkel Rudi Hottung hatte mich mit ins Billtal-Stadion genommen, in dem der Aufsteiger in der Oberliga Nord, Bergedorf 85, den großen HSV empfing. 27 000 Zuschauer waren dabei, einen solchen Zuspruch hat Bergedorf nie wieder erlebt. Man traf sich auf einem roten Grandplatz, der Aufsteiger hatte keinen Rasen, durfte ein Jahr lang mit dieser Sonderregelung spielen.
Für Uwe Seeler und seine Kameraden kein Hindernis. Es wurde so wie immer gespielt: Fallrückzieher, Grätschen, Hechtkopfbälle. Die junge HSV-Mannschaft spielte Fußball voller Emotionen, es ging leidenschaftlich zur Sache. Allen voran Uwe Seeler, der nie in seinem Leben auf die Idee gekommen ist, sich zu schonen. Er ging voran. Und die Nebenleute folgten ihm. So traf Klaus Stürmer, der als Zwilling von Uwe bezeichnet wurde, mit einem Flugkopfballtor – Hautabschürfungen inklusive. 4:1 siegte der HSV damals, Uwe Seeler schoss den Endstand heraus – und von diesem Tag an hatten er und der HSV einen Fan mehr. Mich.
So oft ich Zeit fand, fuhr ich aus dem Hamburger Stadtteil Barmbek an den Rothenbaum. Das war ganz praktisch, denn die U-Bahn hielt nur wenige Meter neben dem Eingang zum HSV-Sportplatz. War ich früh auf der Anlage, sah ich Uwe Seeler fast immer am Kopfballpendel. Zum Anfassen nah durften die Fans damals dabei sein. Uwe trainierte nicht nur Kopfbälle, sondern auch Volleyschüsse am Pendel, auch das Spiel mit dem Innenrist. Immer und immer wieder. Kamen dann seine Kameraden auf den Rasen, stieg er ins Training ein. Damals nur zweimal die Woche, dienstags und donnerstags.
Und wenn der Uwe noch Lust hatte, und das hatte er meistens, dann hielt er nach der Einheit noch Gert „Charly“ Dörfel auf dem Platz fest. Dann lagen 20 Bälle im Anstoßkreis, „Charly“ lauerte als einer der besten Linksaußen der Welt an der Mittellinie, Uwe drosch die Kugel Richtung linke Eckfahne – und ab ging die Post. Dörfel flankte lehrbuchartig aus vollem Lauf, in der Mitte hechtete und schoss Uwe aus allen Lagen. Und alle die Bälle, die über oder neben das Tor flogen, gelegentlich wurde sogar eine Straßenbahn der Linie 18 hinter dem Stadion getroffen, wurden von den Fans geholt und wieder auf den Rasen gerollt.
So wurde auch ich ein Ballholer für Uwe Seeler. Und der legte nicht selten noch eine Sonderschicht nach der Sonderschicht ein. Oft zum Verdruss von „Charly“ Dörfel, der meuterte: „Nee, Dicker, es reicht jetzt.“ Aber das bestimmte immer nur einer: Uwe.
Er war einzigartig. Auf ihn hörten sie alle. Auch nach dem Abschlusstraining am Donnerstag. Gelegentlich versammelte Trainer Günther Mahlmann dann seine Mannschaft in der ersten Reihe der alten Sitztribüne, auch der Coach setzte sich auf die hölzerne Bank – und Uwe ging vor seinen Kollegen auf und ab. Im Stile Sepp Herbergers. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen hielt er seinen Vortrag über den kommenden HSV-Gegner. Uwe wies seine Kollegen auf Stärken und Schwächen hin, er forderte vollen Einsatz und beschwor die Kameraden, den Gegner nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Und das Größte für uns Fans? Wir saßen oberhalb dieses Szenarios, etwa sieben Reihen hinter der Mannschaft, von dort konnten wir jedes Wort hören, das Uwes Lippen verließ. Es war Ehrensache, dass wir uns dort oben alle mucksmäuschenstill verhielten. Andernfalls wären wir wohl auch des Platzes verwiesen worden. Und wenn die Spieler nach dem Duschen aus der Kabine kamen, schlug die Stunde der Autogrammjäger. Uwe ging immer voran, er ließ keinen Wunsch unbeachtet. Wobei sein im September 1979 viel zu früh verstorbener Bruder Dieter einst einen flotten Spruch brachte, den ich nie vergessen werde. Ich hielt ihm mein Album hin, er fragte: „Wo willst du es den hin haben?“ Ich: „Egal.“ Dieter Seeler, ein unheimlich harter Knochen auf dem Platz, sah mich an und sagte: „Egal? Weißt du was egal ist? Egal sind zwei Arschbacken.“ Okay, dann links . . .
Ich war in meinem damaligen Fußballleben oft HSV-Torwart Horst Schnoor, ich „bekam“ einen linken Fuß, weil ich wie „Charly“ Dörfel flanken wollte, aber meistens war ich Uwe Seeler. Und als solcher nahm ich natürlich Flugkopfbälle und Fallrückzieher in meinem Repertoire auf. Dabei war es unwichtig, ob es blaue Flecken oder blutende Oberschenkel gab – Uwe hätte auf solche Kleinigkeiten ebenso wenig geachtet. Er war mein Vorbild. Auch deshalb, weil er nie still war. Er kommentierte fast alles, er meckerte mit den Kollegen, mit dem Schiedsrichter, mit dem Gegner – mit allen. Und wenn es beim HSV fußballerisch nicht lief, wenn einmal eine Niederlage drohte, dann „faltete“ Uwe Seeler alle lautstark zusammen. Keiner konnte das so wie er. Und keiner hatte dabei einen so hochroten Kopf wie er. War dann doch einmal ein Spiel des Abonnementsmeisters im Norden verloren gegangen, dann war Uwe noch weit nach dem Schlusspfiff ungenießbar, dann fuhr er mit einem dicken Hals nach Hause.
So war auch ich (geworden), was mir nicht nur Freunde einbrachte. Uwe aber wurde stets verziehen. Es wurde bei ihm unter Motivation – aufwecken und mitreißen – verbucht, und in diesen Disziplinen ist er auch bis heute ein Vorbild geblieben.
Zwei Jahrzehnte später, ich war Sportchef einer kleinen Regional-Zeitung im Süden Schleswig-Holsteins, hatte mir mein Verleger Carl-Heinz Meincke einen Interview-Termin bei Uwe Seeler, mit dem er befreundet war, gebucht. Ich weiß nicht mehr, was lauter war: Mein klopfendes Herz oder die knarrende Holztreppe, die hinauf in Uwes Büro führte. Dort saß er. Ein dunkler Raum, ein Fenster, ein Schreibtisch und zwei Stühle. Nach unserem Gespräch folgte noch eine Bitte: „Herr Seeler, darf ich Sie schnell fotografieren? Ich brauche ein Foto.“ Natürlich. Dreimal drückte ich auf den Auslöser - Uwe lächelte. „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“
In der Redaktion dann das böse Erwachen. Auf den Fotos nichts, fast nichts zu sehen. Gegenlichtaufnahmen. Uwe sah aus wie Roberto Blanco. Fotolaborantin Christel Thiedemann brach fast zusammen, aber im 18. Versuch schaffte sie es doch noch, halbwegs einen Mann, der wie Uwe Seeler aussah, hinzuzaubern. Glück gehabt. Fortan traf wir uns öfter, Uwe Seeler und ich, vor allem bei HSV-Heimspielen. Und als er 1995 nach jahrelanger und täglicher Drängelei einer großen Zeitung („Uwe muss es machen!“) dann tatsächlich Präsident seines Klubs wurde, standen dann beinahe wöchentlich Gespräche mit den Medien an. Unterhaltungen ernsthafter Natur. Da ging es mitunter ans Eingemachte, denn dem HSV ging es schon damals schlecht. Echt schlecht. Kein Geld, permanente Abstiegsgefahr. Und dem Präsidium um Uwe Seeler wurden Fehler vorgehalten.
Solche Vorwürfe ertrug er nicht gerade gelassen, aber er fuhr selten einmal so aus der Haut, wie er es als Spieler fast permanent getan hatte. An einen Tag allerdings erinnere ich mich, da trafen wir uns in der HSV-Geschäftsstelle in seinem kleinen, viel zu engen Büro. Es gab nur noch Stehplätze, ein Kamera-Team des NDR war dabei – und Uwe polterte los. Hochrot sein Kopf, laut seine Stimme, ganz auf böse gestellt sein Blick: „Ich kann auch anders, ich bin nicht nur der liebe Uwe, ihr werdet mich ab jetzt richtig kennenlernen. Wenn ihr mir an den Kragen wollte, dann werde ich mich zu wehren wissen, jetzt ist Schluss mit lustig.“
Oha. Da war er wieder, der alte Uwe, voller Emotionen, aufweckend, mitreißend. Alle diejenigen, die an jenem Nachmittag dabei waren, schlichen total bedröppelt von dannen. Uwe stocksauer. Aber 1999 war dieses Abenteuer wieder beendet – Uwe gab auf. Und seine Frau Ilka war erleichtert. Heute gibt sie rückblickend zu: „Das war eine furchtbare Zeit für uns.“
Seiner riesigen Popularität hat dieser Lebensabschnitt kein bisschen geschadet. Überall wo Uwe Seeler heute auftaucht, wird er hofiert, geschätzt und immer noch geliebt. Selfies mit ihm sind ebenso begehrt wie seine Autogramme. Und er hat, im Gegensatz zu manchem Möchtegern-Star, keinen Stempel. Und er unterschreibt auch nicht mit US9. Immer Uwe Seeler. Mit grenzenloser Geduld. Auch das macht ihn einmalig.
Zur Person Uwe Seeler feiert am Samstag, 5. November, seinen 80. Geburtstag. Der Hamburger gilt als deutsches Fußball-Idol und ist Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft, für die er 72 Spiele absolvierte und an vier Weltmeisterschaften (1958 – 70) teilnahm. Für den Hamburger SV spielte „Uns Uwe“ von 1953 bis 1972 und wurde mit ihm Deutscher Meister (1960) und DFB-Pokalsieger (1963). Dreimal wurde der Stürmer Deutschlands „Fußballer des Jahres“. 1961 schlug er ein Millionenangebot von Inter Mailand aus und blieb in Hamburg. Seeler ist seit 1958 mit Ilka verheiratet, das Paar hat drei Töchter und sieben Enkel. Enkel Levin Öztunali spielt für den FSV Mainz 05 in der Bundesliga. Autor Dieter Matz (68) berichtete als Sportjournalist für das Hamburger Abendblatt über 30 Jahre lang über den HSV und ist regelmäßig Gast in der Talksendung „Doppelpass“. 2009 gründete er den Blog „Matz ab“. Die täglichen Geschichten rund um den HSV fanden eine treue Anhängerschaft. Aufgrund der zunehmender Anfeindungen („Ich wurde bis ins kleinste Detail verfolgt und beleidigt. Beschimpfungen der untersten Schublade waren an den Tagesordnung“) beendete er seine Blog-Tätigkeit 2015. Seit kurzem ist Dieter Matz „Legendenbetreuer“ für den HSV und kümmert sich medial um ehemalige Größen wie Uwe Seeler, Charly Dörfel oder Horst Schnoor. ach

Was die Unterfranken Luggi Müller und Bernd Hollerbach mit Uwe Seeler verbindet