Lorenz Schäfer macht sich locker. Vor jedem Ballwechsel, körperlich und gedanklich. Denn es gehört zu seiner Spielphilosophie. Seit ungefähr vier Wochen hat es das zwölfjährige Tischtennistalent rot und blau und schwarz auf weiß – mit Edding auf einen Zettel geschrieben – von seinem Ziehvater: Bernhard Gerold. „Es sind nur einige wenige Punkte“, sagt der erfahrene Trainer. Und Lorenz, der für den TTC Kist spielt, hört auf ihn. Und zwar immer. Vor jedem Spiel, nach jedem Satz, zwischen den Ballwechseln und hinterher. „Ein enges Fünf-Satz-Match hat rund 100 Ballwechsel“, weiß Gerold und betont, „das Wichtigste ist, dass man sich vor jedem einzelnen völlig unabhängig vom aktuellen Spielstand macht.“
Das liest sich auf Lorenz? Zettel dann so: „Was vorher war, ist völlig egal . . . und vergessen . . . !“ In knallrot! Das klingt so einfach, gelingt in Wahrheit aber nicht mal den Vollprofis. Sonst würde es auf höchster Ebene keine mentalen Einbrüche geben. Lorenz Schäfer bekommt es hin, scheinbar alles um sich herum auszublenden – sogar das, was unmittelbar zuvor geschehen ist.
So auch an diesem Samstagnachmittag in der Kister Schulturnhalle. Es steht ein Spitzenspiel und Derby in der 2. Bezirksliga West zwischen der zweiten Mannschaft des heimischen Tischtennisclubs und der benachbarten TSG Waldbüttelbrunn an. Nicht etwa im Jugendbereich, sondern bei den Männern. Mittendrin: Lorenz Schäfer.
Hoher Anspruch
Eines seiner Gegenüber hat fast 60 Lenze auf dem Buckel; er könnte sein Großvater sein. Der Routinier jagt seit fast fünf Jahrzehnten dem kleinen weißen Ball hinterher, beim Youngster sind es gerade einmal zweieinhalb Jahre. „Das Ziel ist es, dass Lorenz in den einzelnen Jugendklassen künftig zu den besten Spielern Deutschlands gehört. Mal sehen, ob es uns gelingt“, sagt Gerold, der 1995 die Würzburger Kickers als Trainer in die erste Bundesliga geführt hat.
Der Tauberbischofsheimer hat einen hohen Anspruch, vor allem aber – was wohl noch wichtiger ist – eine Lockerheit, die er auf seine Zöglinge zu übertragen weiß. Auch auf Lorenz. Der Dreikäsehoch macht sich locker, vor jedem Ballwechsel. Schäfer, der aus Kirchheim kommt, widerfährt ein Fehlaufschlag; doch den nächsten Punkt holt er sich mit wunderschönen Schlägen. Und den darauffolgenden wieder. Und dann wieder einen. Bis er elf Zähler hat. Am Ende gewinnt er seine beiden Einzel ohne einen Satzverlust.
Faszination für die langen Ballwechsel
„Am meisten am Tischtennis faszinieren mich die langen Ballwechsel“, sagt Lorenz mit einem spitzbübischen Lächeln. Er wirkt aufgeräumt und gut gelaunt. Das ist ansteckend. „Vor kurzem hat mal jemand gesagt, dass die Stimmung in der Mannschaft durch Lorenz noch besser geworden ist“, erinnert sich Gerold. Nicht nur, weil der Schüler des Deutschhaus-Gymnasiums seine Spiele meist gewinnt, sondern vor allem, weil er diese Sportart so leidenschaftlich gerne mag und es seine Mitmenschen ständig spüren lässt.
Fünfmal in der Woche trainiert Lorenz Schäfer – mindestens. Meist mit Bernhard Gerold und Adrian Jankowiecki, die im Taubertal eine mobile Tischtennisschule betreiben. Jeden Donnerstagabend mit Max Nötzold, der Waldbüttelbrunner Nummer eins. Jeden Freitagfrüh vor der Schule mit dem hiesigen Verbandstrainer Cornel Borsos. „Lorenz muss am Ball bleiben“, sagt Gerold: „Denn er wächst und dadurch verändern sich bei den Schlägen die Winkel, aber auch die Kraft.“ Derzeit spielt Lorenz unheimlich gefühlvoll. Er ist keine dieser hart schmetternden „Angriffsmaschinen“, aber er greift trotzdem jeden denkbaren Ball an – und zwar mit „weich gezogenen Topspins“, die häufig genau auf der Grundlinie landen.
Angetan von der Stimmung
Vor kurzem war Lorenz für den TTC Kist erstmals in der Herren-Oberliga, der höchsten Spielklasse Bayerns, im Einsatz. Es war eine Fahrt quer durch den Freistaat nach Bad Aibling und Haiming an die österreichische Grenze, insgesamt rund 700 Kilometer und zwei komplette Spiele an einem Tag. Dabei gewann Lorenz sogar ein Doppel und einen Satz im Einzel – und das in diesem zarten Alter. Angetan war er von der Stimmung in Haiming, die rund 150 lautstarke Zuschauer fabriziert haben: „Da durften wir sogar mit Musik einlaufen.“
Lorenz trägt in seiner Sporttasche noch einen zweiten Zettel seines Trainers mit sich herum. Er ist überschrieben mit: „Was macht einen Champion aus?“ Ein Punkt lautet: „Umgang mit Sieg und Niederlage.“ In letzterem muss sich Lorenz Schäfer gegen Waldbüttelbrunn nach fast vier Stunden Spielzeit dann doch noch üben. Denn das Entscheidungsdoppel mit seinem Partner Jochen Wilhelm geht verloren. Er findet unter anderem in dem Kontrahenten seinen Meister, der sein Opa sein könnte. Das Spitzenspiel endet somit 8:8-Unentschieden. Lorenz strahlt dennoch bis über beide Ohren. Er ist auf dem besten Weg, ein ganz Großer zu werden. Wenn er es nicht schon ist.