Im Rollstuhl wird John Demjanjuk endlich hereingerollt. Eine Stunde verspätet beginnt am Montag vor dem Landgericht München II der Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher. Er soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor von März bis September 1943 bei der Ermordung von mindestens 27 900 Juden in den Gaskammern geholfen haben. Der 89-jährige gebürtige Ukrainer hat den Kopf weit zurückgelehnt, das blaue Käppi sitzt schief auf dem Kopf, die Augen hält er geschlossen – reglos lässt er zum Prozessauftakt das Blitzlichtgewitter über sich ergehen.
Journalisten aus aller Welt, aber auch Angehörige von Opfern haben stundenlang auf diesen Augenblick gewartet. Manche waren noch in der Nacht vor das Gerichtsgebäude gezogen, um sicher einen der raren Plätze im Schwurgerichtssaal 101 zu ergattern, eine ganze Reihe war schon vor 6 Uhr morgens da. Es dürfte einer der letzten NS-Verbrecher-Prozesse weltweit sein. Experten zweifeln allerdings schon jetzt stark, ob die Beweise für eine Verurteilung reichen.
Verteidiger Ulrich Busch stellt zu Beginn gleich einen Antrag auf Befangenheit von Gericht und Staatsanwaltschaft. Deutsche SS-Männer seien mit Freisprüchen davongekommen, unter Berufung auf den Befehlsnotstand. „Man fragt sich, wie kann es sein, dass Vorgesetzte und Befehlshaber unschuldig sind, der Untergebene aber schuldig?“ Demjanjuk sei genauso Opfer wie die Nebenkläger, sagt er – und sorgt damit für massive Empörung unter den Opfervertretern.
Wegen der angeschlagenen Gesundheit des Angeklagten, darf nur zweimal 90 Minuten verhandelt werden. Demjanjuk hält die ganze Zeit die Augen geschlossen, gelegentlich geht der Mund auf. Nach der Pause wird er sogar auf einer Trage hereingebracht, er könne nicht sitzen, heißt es. Der Prozess wird unterbrochen, er bekommt eine Schmerzspritze. Zwei Mediziner und eine psychiatrische Gutachterin bescheinigen ihm trotzdem erneut eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit. Opfervertreter glauben an Theater.
Angehörige von Opfern sowie einige ganz wenige Überlebende der Vernichtungsmaschinerie hoffen nach 66 Jahren auf Wahrheit und Gerechtigkeit. „Ich suche nicht Rache wegen damals, ich will, dass er die Wahrheit sagt“, betont Sobibor-Überlebender und Nebenkläger Thomas Blatt (82); er hat Eltern und Bruder in Sobibor verloren. Er ist Nebenkläger wie 18 andere. Sollte Demjanjuk auch diesmal nicht verurteilt werden, sei das „ganz schlecht“, meint Nebenkläger Robert Cohen aus den Niederlanden, dessen Familie ebenfalls in Sobibor starb.
Demjanjuk hatte als Traktorfahrer auf einer Kolchose in der Sowjetunion gearbeitet, als er 1940 zur Roten Armee eingezogen wurde. 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft, in der Hunderttausende starben. Der damals 22-Jährige meldete sich als „Hilfswilliger“, wurde im SS-Ausbildungslager Trawniki zum Wachmann geschult und in Sobibor sowie später im KZ Flossenbürg eingesetzt. Nach dem Krieg meldete er sich als „Displaced Person“, lebte zeitweise im oberbayerischen Feldafing, bis er 1952 als Ex-Kriegsgefangener in die USA ausreiste.
Schon seit 30 Jahren steht Demjanjuk immer wieder im Visier der Ermittler, bereits 1988 wurde er in Israel als „Iwan der Schreckliche“ von Treblinka wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 800 000 Juden zum Tode verurteilt und saß fünf Jahre in der Todeszelle. Doch dann hieß es: Er war offenbar doch nicht „Iwan der Schreckliche“.
Auch der Sobibor-Verdacht besteht schon seit damals. Das Lager gehörte wie Treblinka und Belzec zu den infamsten Anlagen der Nazis, im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ allein zur Vernichtung von Menschen errichtet. Wer in Sobibor arbeitete – rund 25 SS-Leute und etwa 100 meist ukrainische Trawniki – hatte keine andere Aufgabe, als bei der Ermordung der aus verschiedenen Ländern verschleppten Männer, Frauen und Kinder zu helfen. Damit hat sich nach Auffassung der Anklage auch John Demjanjuk schuldig gemacht. Augenzeugen für seine mutmaßlichen Taten gibt es allerdings nicht. Denn keiner der Lager-Überlebenden kann sich konkret an Demjanjuk erinnern.
Damit unterscheidet sich der Prozess von früheren Verfahren gegen Nazi-Schergen: Dabei ging es um einzelne Täter und ihre Exzesse – in diesem Fall jedoch ist der Angeklagte einer von sehr vielen, die eine Funktion in der Vernichtungsmaschinerie hatten. Ob das allein für eine Verurteilung reicht? In früheren Prozessen im Zusammenhang mit Sobibor sowie dem Ausbildungslager Trawniki wurden sogar SS-Männer freigesprochen. Die Argumente der Gerichte unter anderem: Die Angeklagten hätten nichts gewusst oder aus Angst um ihr eigenes Leben aus einem Befehlsnotstand heraus gehandelt.
Die beiden Münchner Staatsanwälte Thomas Steinkraus-Koch und Hans-Joachim Lutz haben sich also viel vorgenommen. Er halte die Beweismittel für ausreichend, betont Steinkraus-Koch kurz vor Prozessbeginn. Hauptbeweismittel der Anklage sind ein SS-Dienstausweis mit der Nummer 1393 und eine Verlegungsliste von März 1943, nach der Demjanjuk nach Sobibor geschickt wurde. Demjanjuks Anwälte zweifeln die Echtheit des Dokuments weiter an. „Abkommandiert am 27.3.43 Sobibor“ ist handschriftlich auf dem Ausweis notiert – er war bereits in Israel bekannt, doch reichte das offenbar damals den Anklägern nicht aus.