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WOLSK/MÜNCHEN: DRK-Suchdienst: Den Vermissten des Krieges auf der Spur

WOLSK/MÜNCHEN

DRK-Suchdienst: Den Vermissten des Krieges auf der Spur

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    Vermisstensuche mit Bildern: Nach 1955 wurden 199 Fotobände mit Hunderttausenden vermissten deutschen Soldaten produziert.
    Vermisstensuche mit Bildern: Nach 1955 wurden 199 Fotobände mit Hunderttausenden vermissten deutschen Soldaten produziert. Foto: Fotos: dpa (2), DRK

    Stefan Ant war noch keine 20 Jahre alt, als der Wehrmachtsgrenadier mit seiner Einheit, dem Kampf-Marsch-Bataillon 1024, am 7. Mai 1944 von Rumänien aus nach Sewastopol verlegt wurde. Eine sinnlose Aktion, denn nach schweren Kämpfen mussten die deutschen Truppen nur wenige Tage später ihre letzten Stellungen auf der Krim räumen. Ein Teil der Soldaten konnte von der Kriegsmarine gerettet werden. Nicht aber Stefan Ant. Der Bauernsohn aus dem Rheinland blieb verschollen.

    Daran änderte auch ein Suchantrag nichts, den Ants Familie im März 1950 beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) stellte. Die Ungewissheit blieb – und lichtete sich erst viele Jahrzehnte später: Seit Anfang der 1990er Jahre hatte der Münchner Suchdienst Zugriff auf am Ende rund zwei Millionen Gefangenenakten russischer Archive erhalten. Darunter fand sich auch der Eintrag von Stefan Ant.

    Demnach war der Soldat am 12. Mai 1944 bei Sewastopol in sowjetische Gefangenschaft geraten – und am 11. Oktober 1944 im Kriegsgefangenenlager Nummer 1691 in Wolsk an der Wolga an einer Ruhrerkrankung gestorben. Selbst die letzte Ruhestätte ist in den sowjetischen Unterlagen vermerkt: Auf dem ehemaligen Lagerfriedhof in Grab Nr. 10.

    Ein Fall später Gewissheit – aber mitnichten ein Einzelfall, wie Thomas Huber, der Leiter des DRK-Suchdienstes in München erklärt: Noch immer sind rund 1,2 Millionen Kriegsschicksale deutscher Soldaten und Zivilisten ungeklärt. Doch vor allem die zahlreichen sowjetischen Akten, die die Münchner in digitaler Kopie haben, können dabei helfen, noch viele offene Fälle aufzuklären.

    „Die Russen haben sehr gut Buch geführt“, sagt Huber. Neben den Gefangenenlisten gibt es deshalb in München nun auch Krankenakten und Verzeichnisse über Grabstätten. Doch es gibt auch Tücken der russischen Buchführung: So orientieren sich die in kyrillischer Schrift abgefassten Eintragungen oft eher an der Lautschrift statt an der deutschen Schreibweise. Aus einem „Günther Zick“ wird in den Listen so schon einmal ein „Ginder Chyk“.

    Auch wurde nicht das Geburtsdatum erfasst, sondern nur das Geburtsjahr sowie der Name des Vaters, erklärt Suchdienst-Leiter Huber. Bei allein 300 000 vermissten Soldaten mit dem Nachnamen „Müller“ ist die eindeutige Identifizierung, die Voraussetzung für die Information der Angehörigen, deshalb nicht immer leicht. Die Mitarbeiter bräuchten viel Erfahrung und mitunter auch guten Spürsinn, sagt Huber: „Aber dank der russischen Dateien können wir auch mit wenigen Informationen konkrete Hinweise auf das Schicksal von Verschollenen finden.“

    Der DRK-Suchdienst hatte schon bald nach dem Kriegsende 1945 in München seine Arbeit begonnen. Das Suchverfahren war einfach konzipiert: Jeder Suchantrag bestand aus zwei Karteikarten – einer „Stammkarte“, in der die Daten des Suchenden eingetragen wurden, und einer „Suchkarte“, die Angaben zum Gesuchten enthielt. Bis 1949 konnte der Suchdienst fast 14 Millionen Menschen wieder zusammenführen.

    Über die Jahre entstanden fast 50 Millionen Karteikarten, die zuletzt in 35 271 Karteikisten aufbewahrt wurden. Jede einzelne Karte ein Name, ein Leben, ein Schicksal. Jede Karte eine Geschichte einer zerrissenen Familie und eine von jahrelanger Ungewissheit über Leben oder Tod. In ihrer Masse sind diese Karten ein eindrucksvolles Mahnmal, das den monströsen Wahnsinn dieses Krieges eindrucksvoll vor Augen führt.

    Seit gut einem Jahr befinden sich die vergilbten Blätter nicht mehr in einem schmucklosen Bürogebäude im Münchener Stadtteil Giesing, in dem der Suchdienst seine Zentrale hat. In einer gut zehnjährigen Arbeit hatten Suchdienst-Mitarbeiter zuvor sämtliche Karteikarten der sogenannten „Zentralen Namenskartei“ (ZNK) per Hand eingescannt. Die Arbeit war mühsam, denn auf manchen der Karten war die Schrift verblichen, es gibt handschriftliche Vermerke und Stempel. Alle Informationen sollten aber auch auf den Computerschirmen lesbar bleiben, die Zuordnung der Karten musste noch penibler stimmen als in den alten Karteikästen, so dass ein automatisiertes Einlesen unmöglich war. Heute lagern sämtliche Kartei-Informationen auf einer fünf Terabyte großen Festplatte. Und die originalen Karteikarten ruhen seit Frühjahr 2014 sicher verwahrt in einer Außenstelle des DRK-Suchdienstes in Hamburg.

    Anstatt stundenlang durch lange Gänge mit unzähligen Karteikästen zu laufen, können die drei verbliebenen Suchdienst-Rechercheure nun alle Daten schnell und präzise am Computer abrufen. An Arbeit fehlt es den Mitarbeitern nicht: Rund 13 000 neue Anfragen gingen im vergangenen Jahr beim Suchdienst ein – eine Anzahl, die über die letzten Jahre sehr konstant gewesen sei, berichtet Huber.

    Die Anfragen kommen oft von Kindern vermisster Soldaten, die inzwischen im Rentenalter sind – und nun das Schicksal des im Krieg verschollenen Vaters aufklären wollen. „Aber auch in der Generation der Enkel ist ein großes Interesse da“, sagt Huber. Gerade den Enkeln gehe es darum, möglichst viele Details zusammenzutragen: „Viele Enkel wollen die schwarzen Flecken auf der Familienlandkarte aufklären“, sagt Huber.

    Mitunter gibt es in den Familien bereits einige Anhaltspunkte über das Schicksal des Verschollenen. So hatte der DRK-Suchdienst allein von Mitte der 1960er Jahre bis Ende der 1980er Jahre über 1,2 Millionen Gutachten über das wahrscheinliche Schicksal vermisster Soldaten, aber auch im Krieg verschollener Zivilisten erstellt.

    Grund für diese oft umfangreichen Gutachten war, dass der Suchdienst nicht nur aus moralischen, sondern auch aus rechtlichen Gründen eine abschließende Auskunft geben musste. Für die Angehörigen ging es dabei etwa um Rentenansprüche oder Erbfragen.

    Die Gutachten basierten zumeist auf einer sogenannten „Gruppennachforschung“ – also der Analyse, welche Gruppen von Soldaten zur gleichen Zeit am gleichen Ort am gleichen Kampfgeschehen beteiligt waren – um mit hoher Wahrscheinlichkeit Auskunft über das Einzelschicksal geben zu können.

    Bis in die 1950er Jahre waren zudem Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft systematisch nach vermissten Kameraden befragt worden. 1955 wurden mit großem Aufwand sogenannte „Vermissten-Bildlisten“ angefertigt – stolze 199 Bände mit jeweils fast 700 Seiten, in denen 1,4 Millionen vermisste Wehrmachtsangehörige verzeichnet waren, über 900 000 davon mit Bild.

    „Hast du einen von denen in der Kriegsgefangenschaft gesehen?“, wurden die Heimkehrer gezielt gefragt. Zwei Millionen Aussagen wurden auf diese Weise gesammelt. „So konnten einigermaßen verlässliche Auskünfte gesichert werden, die später dann auch in die Gutachten Eingang fanden“, erklärt Suchdienst-Archivar Christoph Raneberg.

    Viele Originalfotos, aus denen die Bilderlisten einst erstellt wurden, lagern noch immer in München – ordentlich einzeln in Umschlägen verpackt. Viele junge Männer mit ernstem Blick in Wehrmachtsuniform sind darauf zu sehen. Aber auch private Aufnahmen, ausgeschnitten aus Familienfotos, die den Krieg überstanden hatten. Die Bilder können von Angehörigen zurückgefordert werden, berichtet Raneberg. Der Suchdienst plant zudem, die Vermissten-Bildlisten im Internet zugänglich zu machen.

    Ein besonders schmerzliches Kapitel des Zweiten Weltkriegs wird in einem eigenen Raum des Suchdienstes bearbeitet: Vermisste und entwurzelte Kinder. Rund 500 000 Kinderschicksale konnte der Suchdienst seit 1945 klären. Besonderes Augenmerk lag dabei auf rund 33 000 „Findelkindern“, die in den letzten Kriegswirren oder auf der Flucht von ihren Familien getrennt worden waren. „Diese Kinder waren oft noch zu jung, um zu wissen, wie sie hießen oder woher sie kamen“, erklärt Raneberg.

    „Bei den Kinder-Suchfällen sind die Akten am dicksten“, weiß der Suchdienst-Experte. Oft kann nur in mühsamer Kleinarbeit das Puzzle der Herkunft gelöst werden. Hunderte Fälle sind nach wie vor offen. „Doch es gibt immer noch aktuelle Familienzusammenführungen“, sagt Raneberg. Gleiches gilt für Kinder von Besatzungssoldaten – sowohl Deutschen während des Krieges, als auch von alliierten Soldaten nach dem Krieg in Deutschland. Seit gut 40 Jahren versucht der Suchdienst auf Antrag, Väter und Kinder zusammenzubringen.

    Eine Aufgabe, die mitunter heikel ist und von den Suchdienst-Mitarbeitern psychologisches Einfühlungsvermögen verlangt: „Wir müssen vor einer Familienzusammenführung immer erst ausloten, ob alle Betroffenen dies auch wollen“, sagt Raneberg. Nicht immer sei dies der Fall.

    Dass sich der Suchdienst in absehbarer Zeit überflüssig machen könnte, glaubt Leiter Thomas Huber nicht: „Der Datenbestand ist da, und er wird auch weiter genutzt werden.“ Zu den individuellen Anfragen zu Familienangehörigen komme zudem das historische Interesse an der wohl umfangreichsten Dokumentation von deutscher Kriegsgefangenschaft in Zweiten Weltkrieg.

    Viele der noch offenen Soldatenschicksale werden sich trotz russischer Akten und Digitalisierung aber wohl nie aufklären lassen. „Vor allem nach Stalingrad wird die Dokumentation immer chaotischer“, sagt Raneberg. Doch für diejenigen, die Auskunft bekommen, sei die späte Klarheit oft eine große Erleichterung.

    So wie für Gisela Schaar, die 66 Jahre nach dem Tod ihres Vaters in einem sowjetischen Lager vom Suchdienst endgültige Gewissheit bekam: „Erst war ich sehr gerührt“, schrieb sie den DRK-Mitarbeitern zurück. „Nun freue ich mich sehr, dass ich kurz vor meinem 78. Geburtstag doch noch etwas über meinen Vater erfahre.“

    DRK-Suchdienst

    Wer nach im Zweiten Weltkrieg verschollenen Familienangehörigen suchen möchte, kann beim DRK-Suchdienst in München einen Antrag stellen. Ein Suchformular ist auf der Internetseite unter www.drk-suchdienst.de abrufbar. Es genügt aber auch eine formlose schriftliche Anfrage an die Postanschrift DRK-Suchdienst, Chiemgaustraße 109, 81549 München. Für direkte Nachkommen ist die Anfrage kostenlos. Die Bearbeitungszeit dauert derzeit etwa sechs bis acht Wochen. Neben der Suche nach Vermissten des Zweiten Weltkriegs kümmert sich der Suchdienst in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz auch um die Suche von Kriegsflüchtlingen und Migranten weltweit sowie um Vermisste von Naturkatastrophen. Text: rys

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