Die Europäer sind sich einig: Sie wollen ihre EU-Außengrenze schützen. Diese läuft zum großen Teil durchs Mittelmeer. Hilfsorganisationen, die dort Flüchtlinge retten, geraten immer mehr unter Druck. Italien lässt die Schiffe der Seenotretter nicht mehr in die Häfen einlaufen. Auch Malta setzt Rettungsschiffe fest, wie das Schiff der deutschen Organisation „Lifeline“. Deren Kapitän steht dort sogar vor Gericht. Das Schiff der „Sea-Watch“ wird ebenfalls im Hafen von Maletta blockiert. Ihr Aufklärungsflugzeug bekommt keine Startgenehmigung. Der 65-jährige René Stein aus dem mittelfränkischen Röttenbach ist entsetzt. Der Kapitän der Regensburger Organisation „Sea Eye“ war noch im vergangenen Jahr an der Rettung vieler Menschen vor der nördlichen Küste Afrikas beteiligt. Jetzt kann auch er nichts mehr tun.
Was bedeutet das, wenn keine Schiffe mehr auslaufen dürfen?
Rene Stein: Allein im Juni sind mindestens 629 Menschen ertrunken: Männer, Frauen, Kinder und sogar Säuglinge. Ich finde es unverantwortlich von der EU, Menschen, die in Not sind, einfach ertrinken zu lassen. Dies widerspricht jedem humanistischen und christlichen Gedankengut.
Der Sprecher der Hilfsorganisation „Sea-Watch“, Ruben Neugebauer, verglich die Situation mit einem Krankenwagen, der zugeparkt wird, damit er keinem Unfallopfer mehr helfen kann. Sehen Sie das ähnlich?
Stein: Ja. Eigentlich ist es noch schlimmer. Wenn in Deutschland jemand verhindern würde, dass eine Rettungsorganisation helfen möchte, bekäme er – zu Recht – ein Strafverfahren.
Der Kapitän der „Lifeline“ steht vor Gericht, weil er sein Schiff nicht ordnungsgemäß beflaggt haben soll. War das Schiff, das Sie gefahren sind, richtig beflaggt und richtig registriert?
Stein: Ich hatte auf dem Schiff ein Zertifikat, das es als niederländisches Schiff kennzeichnete. Das habe ich den Behörden in Malta beim Ein- und Auslaufen vorgelegt. Es wurde nie beanstandet.
Gibt es ein Gesetz, das Seenotrettung verbietet, beispielsweise wenn man sich in fremden Hoheitsgewässern aufhält?
Stein: Nein, das gibt es nicht. Im Gegenteil: Jeder ist nach den internationalen Bestimmungen verpflichtet, Hilfe zu leisten. Dies ist unabhängig vom Ort, der Nationalität oder der Ursache und den Kosten des Seenotfalls. Einzige Ausnahme ist, der Retter würde sich selbst in Gefahr bringen.
Macht es die Seenotrettung unglaubwürdig, wenn Menschen das Gefühl haben, da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, weil die Seenotretter jetzt vor Gericht stehen?
Stein: Vermutlich ist es das Ziel einiger Politiker, auf diese Weise Retter zu diffamieren.
Italien und Malta werfen Ihnen vor, ein verlängerter Arm der Schlepper zu sein. Ist das so?
Stein: Nein. Es bestehen keine Kontakte zu den Schleppern. Das würde auch dem Grundgedanken der Rettungsorganisationen widersprechen. Sie wollen Menschen helfen und nicht mit Verbrechern, denen Menschenleben nichts bedeutet, zusammenarbeiten.
Sie sagen, Flüchtlingsboote fahren nur los, weil sie wissen, dass die Seenotretter sie im Ernstfall retten ...
Stein: Nein. Studien, unter anderem der Universität Oxford, haben nachgewiesen, dass es diesen so genannten „Pull-Effekt“, von dem Sie sprechen, nicht gibt. Außerdem stimmt es ja auch nicht, dass die Flüchtlinge immer von Rettern gefunden und gerettet werden: Das beweisen Tausende von Toten. Russisches Roulette dürfte da bessere Chancen bieten.
Eigentlich sollte doch die libysche Küstenwache die Menschen retten – dafür zahlt die EU ja sogar Geld.
Stein: Bei der so genannten libyschen Küstenwache handelt es sich nicht um eine Organisation, wie wir sie uns unter einer Küstenwache vorstellen. Es sind Milizen, die sich ein Boot geschnappt haben und nun mit der Kalaschnikow unterm Arm über die See brausen. Sie haben keine Ahnung vom Seerecht und sind vielfach korrupt. Ich habe selbst gesehen, wie ein Mitglied der Küstenwache auf ein Flüchtlingsboot gesprungen ist und mit einem Stock wahllos auf die Migranten eingeschlagen hat. Wir vermuten sogar, dass sie mit den Schleppern zusammenarbeiten. Wenn sie Flüchtlinge zurück nach Libyen bringen, werden diese verkauft oder unter furchtbaren Bedingungen in Lager gesperrt.
Würde ein Schlauchboot nicht auch ohne fremde Hilfe in Europa ankommen?
Stein: Nein. Die Schlauchboote kommen nur 40 bis 50 Kilometer weit. Dann sind sie aber bereits viele Stunden unterwegs, bei Temperaturen weit über 30 Grad. Sizilien ist fast 500 Kilometer von Libyen entfernt. Es fehlt an navigatorischer Ausrüstung und an Kenntnissen. Es ist kein Trinkwasser an Bord. Die Boote sind total überladen. Die Menschen sitzen auf dem Rand, ohne sich festhalten zu können. Sie können nicht einmal auf die Toilette. Nach einigen Stunden sind die Schläuche des Bootes durchgescheuert und die Boote sinken.
Woher wissen die Retter, wo sich ein Schiff befindet und wann es Hilfe braucht?
Stein: Viel hat die „Moonbird“, ein Flugzeug der Rettungsorganisation „Sea-Watch“, das jetzt nicht mehr starten und landen darf, dazu beigetragen. Oft haben wir vom „Maritime Rescue Coordination Center“ in Rom einen Hinweis bekommen. Und ansonsten patrouillierten wir 50 bis 60 Kilometer vor der Küste und es war mehr oder weniger Zufall.
Warum steigen in Libyen selbst Mütter mit Säuglingen
in diese seeuntüchtigen Boote?
Stein: Aus Angst.