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WÜRZBURG: Soziale Medien machen noch keine Revolution

WÜRZBURG

Soziale Medien machen noch keine Revolution

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    Als soziale Medien bezeichnet man Netzgemeinschaften wie Twitter, Facebook oder Youtube, auf denen Nutzer Texte, Fotos, Videos und Meinungen miteinander austauschen. „Das Internet als treibende Kraft bei den Revolutionen in Ägypten, Tunesien, Libyen und Syrien wird überschätzt“, sagt Professor Doktor Konrad Schliephake, Lehrbeauftragter an der Universität Würzburg, der viele Jahre in Kairo gelebt hat, und fügt hinzu: „Das ist ein Mythos, den die westliche Welt aufgebaut hat.“

    Die Zahlen geben ihm recht: Laut NATO-Brief (monatliches Magazin unter der Schirmherrschaft des NATO-Generalsekretärs) nutzen fünf Prozent der Tunesier das soziale Netzwerk Facebook, die Internet-Durchdringung der Region liegt bei lediglich 20 Prozent. Die häufigsten Sprachen im Netz sind Englisch, Chinesisch und Spanisch. Arabisch steht erst an siebter Stelle. Am meisten gesurft wird noch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel und Bahrein. „In Libyen hat kaum jemand Internet“, so Schliephake.  

    "Revolutionen finden auf dem Boden statt"

    Die arabische Jugend ticke ganz anders als bei uns. Die Wirtschaft liege brach, die Arbeitslosigkeit sei hoch. „Jugendliche treffen sich, verbringen viel Zeit miteinander, diskutieren. Wenn bei uns etwas passiert, ziehen sich die Leute in ihre Häuser zurück und informieren sich über die Medien. Wenn dort etwas passiert, gehen sie auf die Straße und reden miteinander.“

    Auch Christian Wolff, Promotionsstudent an der Universität Erlangen-Nürnberg, der sich auf dem Blog „Fokus-Nahost“ mit der Rolle des Web 2.0 in der ägyptischen Revolution auseinandersetzt, ist der Meinung: „Revolutionen finden auf dem Boden statt. Nur so funktionieren sie“. Ganz konkret heißt das: Menschen müssen auf dem Tahrir-Platz in Kairo stehen. Sie müssen sich den Polizisten in den Weg stellen. Sie müssen ihre Existenz, ja ihr Leben riskieren. Von einer Facebook- oder Twitter-Revolution zu sprechen, würde laut Wolff diesen Menschen nicht gerecht werden.  

    Die Rolle von YouTube, Twitter, Facebook und Co.

    Welche Rolle spielen dann YouTube, Twitter und Facebook im Arabischen Frühling? Um das zu verstehen, ist eine weitere Zahl wichtig: Mittlerweile gibt es weltweit über fünf Milliarden Mobiltelefone, Tendenz steigend. Die meisten Handys werden laut Bitcom (Bundesverband für Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien) in Entwicklungsländern verkauft, also dort, wo die Mehrheit der Bevölkerung aus Jugendlichen besteht. Auch in den arabischen Staaten ist das Mobiltelefon sehr verbreitet, so Schliephake. Handy-Videos, die zeigen, wie das autoritäre Regime mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vorgeht, werden an Freunde per SMS verschickt. Nachrichten per Mobiltelefon weitergeleitet, Treffpunkte per Anruf vereinbart. Das erste Dominosteinchen ist gefallen: Die Technologie beschleunigt den politischen Wandel, indem sie die Jugendlichen vernetzt, sodass sich diese in Echtzeit über politische Aktionen abstimmen können. Gelangen die Fotos, Videos oder SMS-Botschaften der Aufständischen gar ins Internet (oft werden dazu Handys außer Landes geschmuggelt), fällt das nächste Dominosteinchen: „Über geografische und gesellschaftliche Grenzen hinweg werden Frustrationen gegenüber dem autoritären Regime geteilt“, sagt Wolff.  

    Beispiel Ägypten: Blogger Khaled Said wird zur Symbolfigur

    Ein Beispiel ist der Fall von Khaled Said. Der 28-jährige ägyptische Blogger wurde in Alexandria von der Geheimpolizei aus einem Internetcafé gezogen und zu Tode geprügelt. Die Schwester des Ermordeten stellte Fotos von ihm ins Netz. In Dubai erreichten diese Wael Ghonim, Googles Marketingchef für Nordafrika. Er beschloss, aktiv zu werden und erstellte die Facebook-Seite „Wir sind alle Khaled Said“. Der Protest entlud sich in dem sozialen Netzwerk; der Fall wurde weltweit bekannt und die Seite fast eine Million Mal über den „Gefällt-mir“-Button für gut befunden. Diese Zahl macht noch keine Revolution. Doch Said wurde zur Symbolfigur der protestierenden Jugend in Ägypten.

    Die nächste Reihe an Dominosteinchen fällt in dem Moment, in dem traditionelle Medien ihren Informationshunger über die Social-Media-Plattformen stillen. Der Fernsehsender Al-Dschasira, der laut NATO-Brief fast 80 Prozent der Bevölkerung in großen Städten erreicht – zurzeit Staatsfeind Nummer eins im arabischen Raum – hat kontinuierlich Material aus den sozialen Netzwerken überprüft, journalistisch aufbereitet und neu verpackt. Fernsehjournalisten führten ein Interview mit Wael Ghonim, als dieser aus ägyptischer Haft entlassen wurde. Deutsche Nachrichtensendungen zitierten teils im Sekundentakt neue Informationen twitternder arabischer Journalisten. Das Satellitenfernsehen erfasste die Bilder protestierender Menschen auf dem Tahrir-Platz, strahlte sie in alle Welt aus und lenkte die Aufmerksamkeit auf authentische Stimmen auf der Straße. So kam der Arabische Frühling in unsere Wohnzimmer.  

    "Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts ist das Netzwerk"

    „Früher konnten Diktaturen vieles unter den Teppich kehren. Heute ist das Gott sei Dank nicht mehr so einfach“, sagt Schliephake. Am 27. Januar 2011 versuchte das Regime in Ägypten, Internet und Mobilfunknetze tagelang abzuschalten. Mit mäßigem Erfolg. „Das Land ist ein in die globale Öffentlichkeit besonders eingebundener Staat“, erklärt Wolff und fügt hinzu: „Ausländische Hotels, die ägyptische Börse, die Verwaltung und Mubaraks Einheiten selbst mussten ja irgendwie miteinander kommunizieren.“ Der Fernsehsender Al-Dschasira betrieb ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Regime. Er sendete permanent Massenbilder vom Tahrir-Platz. Er änderte ständig seine Frequenzen und teilte diese via Twitter und Mobilfunk mit. „Die Weltöffentlichkeit war immer präsent“, berichtet Wolff.

    Alec Ross, Berater von US-Außenministerin Hillary Clinton, meint: „Nichts von dem, was in Nahost geschieht, ist eine durch Technologie ausgelöste Revolution – aber Technologie spielte eine wichtige Rolle.“ Technologie führe dazu, dass die Macht vom Nationalstaat auf viele Einzelpersonen übergehe, die sich miteinander vernetzen. Es brauche keine herausragende Persönlichkeit mehr, um die Massen zu organisieren und zu inspirieren. Ross formuliert es so: „Der Che Guevara des 21. Jahrhunderts ist das Netzwerk.“

    Standpunkt:  Keine Heilsbringer

    Wer glaubt, soziale Medien seien demokratische Heilsbringer, liegt falsch – trotz ihrer unbestritten positiven Funktion im Arabischen Frühling. Obama erkannte die Macht sozialer Netzwerke im Jahr 2008. Während seiner Präsidentschaftskampagne sammelte er sehr schnell sehr viel Geld, indem er viele Menschen dazu motivierte, eine kleine Summe zu zahlen. Bedenklich wird es, wenn Regierungen die neue Technologie missbrauchen, manipulieren und unterdrücken. Wenn zum Beispiel die Staatsmacht im Iran Youtube-Videos analysiert, um Dissidenten zu identifizieren und zu verhaften. Dort soll es auch eine sogenannte Deep-Packet-Überwachung geben. Schreibt jemand eine SMS mit dem Text: „Wir treffen uns zum Protest“, so würden Schlüsselbegriffe erfasst, gelöscht oder abgeändert. China ist der Meister der Informationsunterdrückung. Laut NATO-Brief sollen dort Zehntausende damit beschäftigt sein, die Kommunikation im Netz zu zensieren. Soziale Medien sind weder gut noch böse. Die Technologie eignet sich für Demokraten und Diktatoren. Wenn Menschen Demokratie anstreben, wird dies durch soziale Medien unterstützt. Streben sie etwas anderes an, unterstützen soziale Medien auch dies.  

    ONLINE-TIPP

    Alle Beiträge zur Serie finden Sie auf: www.mainpost.de/leben2.0

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