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Ostern: Phänomen Cliffhanger: Der Abgrund des Seins – und der Trend in Serien

Ostern

Phänomen Cliffhanger: Der Abgrund des Seins – und der Trend in Serien

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    Von der Nahtod-Erfahrung, auch in "Game of Thrones": Das Ende oder ein Neubeginn?
    Von der Nahtod-Erfahrung, auch in "Game of Thrones": Das Ende oder ein Neubeginn? Foto: baruch, stock.adobe.com

    Unser aller Leben steuert auf eine Klippe zu. Wir haben ihr endgültig klingende Namen gegeben: la Mort, Death … – der Tod. Aber könnte es nicht auch der Übertritt in eine bloß andere Daseinsform sein, ein offenes Ende also? 

    Das beschäftigt die Menschen nachweislich, seit sie überhaupt über sich selbst nachdenken, bereits die früheste Erzählung handelt davon: das Gilgamesch-Epos. Und das christliche Osterfest bildet die Hoffnungsbotschaft auf so etwas wie das größte Happy End der Menschheitsgeschichte. Was kommt danach? Auferstehung der Toten und das ewige Leben. 

    Die Verdrängung des Todes in der Gesellschaft und die Perfektion der Ablenkung

    So wird der Skandal des Abgrunds entschärft, die Verzweiflung angesichts der Klippe gelindert – im Glauben. Aber der Mensch, er will's ja viel lieber noch wissen. Und gibt es nicht tatsächlich Botschaften von jenen, die bereits über die Klippe gegangen schienen, aber doch zurückkehrten, die mehr als eine Ahnung vermitteln, die Zuversicht stützen. Mit einer Hand noch an der Klippe blickten sie auf bereits andere Art zurück ins Leben, meist von oben statt aus einem vermeintlichen Abgrund von unten, und blickten zugleich voraus in ein Licht, begegneten mitunter anderen, offenbar nur Vorausgegangenen, doch nicht ganz Vergangenen. Oder sind das auch nur Erzählungen? Ein Arzt namens Wolfgang Knüll wird später zu den Erlebnissen dieser "Klippenhänger" führen, er hat ein Buch über "Nahtoderfahrungen" geschrieben und verspricht eben kein Glaubenszeugnis – sondern: "Aktuelle Antworten der Wissenschaft". 

    Aber zunächst stelle man sich das einmal vor: Zu wissen, dass der Tod nicht das Ende ist, zu wissen, dass es weitergehen wird, samt einem eigenen Bewusstsein – was das für das Leben bedeuten würde! Die Philosophen mögen in der Antike bereits davon gekündet haben, wie wesentlich es für einen eigentlichen Reichtum des Daseins sei, im Angesicht des jederzeit möglichen Todes zu leben. 

    Aber was sagt die tatsächliche Ausgestaltung der Alltagswirklichkeit des Menschen, zumal in der Moderne, die ja nicht von ungefähr geprägt ist von einer Unterhaltungsindustrie, inzwischen längst multimedial und allgegenwärtig? Die Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft – allein, in welch zunehmend hoher Frequenz diese seit vielen Jahren schon fortwährend beklagt wird, kann hier genügen dafür als Indiz, dass es die wohl tatsächlich gibt. 

    Sherlock Holmes und "Dallas", Thomas Hardy und "Game of Thrones"

    Klassisch ist der Befund, dass unser Leben auf zwei existenzielle Weisen bedroht sein kann, in Spannung zur Klippe kommt also. Die eine ist die äußere Gefahr, die körperliche Notlage. Die andere entsteht wieder genau in deren Abwesenheit, von der Polsterung im Wohlstand noch befördert: die innere Leere. Wer den Blick Richtung Abgrund scheut, der lenke sich fortwährend ab, meide jede Form von Langeweile, der lasse sich unterhalten. Arg harte Kante gegen die Unterhaltung, die doch auch, wie die Kunst, gerade das Menschsein im Wesentlichen behandeln kann? 

    Dazu passte jedenfalls, was die Münchner Kulturhistorikerin Nathalie Weidenfeld unserer Redaktion über das dominierende Unterhaltungsformat der Gegenwart gesagt, über Streaming-Serien nämlich: "Sie befördern das Muster einer infantilen Wunschbefriedigung, ein Ende ist immer der Cliffhanger für die Fortsetzung, es hört nie auf – und das wird zur Hauptsache. Dieses Unabgeschlossene fördert die Sehnsucht nach dem 'Wie geht's weiter'. Als Selbstzweck. Es geht gar nicht mehr um einen Kern, eine Substanz einer kohärenten Geschichte, nur noch die nächste Aufregung." Es sei wie die Rückkehr in die orale Phase, reines Nuckeln und Saugen, eine Geborgenheit vor allen Unbilden der Existenz, weil die Mechanismen letztlich stärker wirkten als alle Inhalte. Von Cliffhanger zu Cliffhanger zu Cliffhanger hangeln wir uns in Serie, um damit die tatsächliche, existenzielle Klippe möglichst aus dem Blick zu rücken … Echt jetzt? 

    Es gibt jedenfalls noch ein Indiz, das wie eine Bestätigung erscheint. Was nämlich, wenn die Endlichkeit selbst mitten in die geliebte Serie schneidet und das Prinzip im Herzen bricht? Bei Volker Klüpfel wäre das zum Beispiel mit dem Tod der Figur Jon Snow in der Serie "Game of Thrones" so – die hätte er den Autoren nie verziehen. Sagt er. Und ja, das ist der Kluftinger-Klüpfel, der von den Erfolgskrimis. Der nämlich hat nicht nur mit dem Kollegen Michael Kobr zusammen auch schon einen Thriller geschrieben, "Draußen", und dabei selbst die genretypischen Erfahrungen mit den Cliffhangern gemacht – er ist zudem vor allem ein leidenschaftlicher Seriengucker und als Autor ja zugleich handwerklicher Analyst. 

    Das sagt der Experte für "Serielles Erzählen", Vincent Fröhlich – auch über Bobby Ewing und Jon Snow

    Und mit Jon Snow ging es ja nicht nur ihm allein so. Vincent Fröhlich, Medienwissenschaftler an der Universität in Marburg und Experte für "Serielles Erzählen", weiß in diesem Fall geradezu von einem weltweiten Aufschrei zu berichten, der Sender HBO von Empörungsstürmen heimgesucht durch all die aus ihrer Geborgenheit Gerissenen. Die Folge? Etwas, das Fröhlich das immer wieder in Serien auftretende "lazarinische Prinzip" nennt, nach dem biblisch von den Toten auferweckten Lazarus: Jon Snow durfte ins Leben zurückkehren, eben noch aufgebahrter Leichnam am Ende von Staffel fünf, zur sechsten tatsächlich wiedererweckt. 

    Was das Abbild des vielleicht berühmtesten Cliffhangers überhaupt ist. Denn tatsächlich wagte Sir Arthur Conan Doyle Ende des 19. Jahrhunderts seinen in Fortsetzungsromanen in der Zeitung geschaffenen und von den Massen geliebten Ermittler Sherlock Holmes aus persönlichem Überdruss zu beseitigen – durch einen Sturz samt seinem Widersacher Dr. Moriarty von der Klippe. Und gab auch aus wirtschaftlichen Interessen (nachdem "Der Hund von Baskerville" als eine Art Prequel über den jüngeren Holmes so ungeheuer erfolgreich war) der Liebhaber-Empörung schließlich nach, wiederbelebt vom Autor selbst: Holmes hing doch noch an der Klippe, lebendig! 

    Und um das Trio der bekanntesten Serien-Lazarusse noch zu vollenden, bevor es weiter in die Tiefe der Cliffhanger und ins Licht des Nahtods geht: Bobby Ewing. 1985, "Dallas". Auch damals waren Wut und Verzweiflung über den plötzlichen und endgültigen Abschied von der durch Patrick Duffy verkörperten Figur riesig. Die Lösung jedoch, den Tod als schlichten Traum aufzulösen und damit den neben dem Tycoon J.R. Ewing so smart wirkenden Bruder einfach weiter da sein zu lassen, hat Wissenschaftler Vincent Fröhlich alles andere als überzeugt. Volker Klüpfel sagt sogar: "Die Rückkehr von Bobby war für mich der Grund, nicht weiterzuschauen, da sich damit ja alle Entwicklungen seit seinem Serientod in nichts aufgelöst hatten." Und da wir schon in der Vergangenheit sind – die Allzeit-Lieblingsserien des Autors, dessen Vorlieben bei Aktuellerem zwischen "Narcos" und der Neowestern "Yellowstone" mit Kevin Costner, sind übrigens: "Ich heirate eine Familie" und "Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert", "aus rein nostalgischen Gründen allerdings, die komplexere, horizontale Serienstruktur der Gegenwart finde ich ungleich faszinierender", sagt Klüpfel, also unter dem Kommando von Captain Jean-Luc Picard. 

    Der Autor Volker Klüpfel und die Frage: Wie viele offene Geschichten verträgt ein Hirn?

    Aber wann fing das alles überhaupt an, mit dem "Seriellen Erzählen" samt Cliffhangern? Die Bezeichnung des Klippenhängers als Moment der Spannungserzeugung stammt, so erklärt Vincent Fröhlich, wahrscheinlich aus dem Roman "A Pair of Blue Eyes", der vor jetzt genau 150 Jahren als Serie in Tinsley's Magazine erschien. Der Held Stephen hängt darin am Ende einer Folge tatsächlich an einer Klippe – um zu Beginn der nächsten von der Heldin Elfride hochgezogen und gerettet zu werden: Happy Birthday, Cliffhanger! 

    Dabei ist die Methode "wohl so alt wie das Erzählen selbst", sagt Fröhlich. Er nennt als Beispiel die Märchensammlung "1001 Nacht", die vielfach das Stilmittel des Cliffhangers enthalte, in der frühesten erhaltenen Version seien die Rückkehr zur Rahmenhandlung sogar extra in anderer Farbe geschrieben gewesen, offenbar um dem Erzähler zu signalisieren, wann er seiner Stimme eine andere Färbung geben soll. Die Übersetzerin Claudia Ott, so der Wissenschaftler, der selbst schon ein Buch über "1001 Nacht" veröffentlicht hat, ginge davon aus, dass Cliffhanger sogar ein Kriterium für die Aufnahme in den Kanon waren. Und die Erzählung an einem spannenden Moment unterbrechen zu können, sicherte den damalige Berufsvorträgern ja auch, wieder eingeladen und gebucht zu werden. 

    So lässt sich das handwerkliche Mittel mit Fröhlich tatsächlich durch die Geschichte des Erzählens verfolgen, mit Höhepunkten immer dann, wenn für ein neues Format des seriellen Erzählens Treue beim Publikum gewonnen werden sollte. Zum Beispiel war eine Hochphase beim Aufkommen des besonders starken Konkurrenzkampfes zwischen den französischen Zeitungen, als dort auch die Feuilletonromane, erschienen, samt Prominenz wie Charles Dickens in England und Alexandre Dumas in Frankreich, eingesetzt, um die Abonnements in die Höhe zu treiben – und, so Fröhlich, vor allem dann gerne mit einem Cliffhanger ausgestattet, wenn es darum ging, das Abo für ein weiteres Jahr zu verlängern. 

    Die Geschichte der Cliffhanger reicht zurück bis "1001 Nacht"

    Oder die in den Kinoserien der 1920er Jahre, als die Filmrollen noch nicht so dick sein konnten, um lange Geschichten damit zu erzählen, Fröhlich: "Fortsetzungen mit Cliffhangern sollten dazu führen, dass die Leute jeden Samstag wieder ins Kino gehen, der Erzählung treu bleiben, auch damit sich eine Gewöhnung an das Kino einstellt." Ein Knüller damals. "What happened to Mary?", wo in der begleitenden Zeitschrift The Ladies’ World das Publikum auch noch eingebunden wurde durch den Wettbewerb um die beste Idee, wie es weitergehen solle. Prämie: 100 Dollar! Und vielleicht ja das unbezahlbare Glück, die "Serial Queen" seiner Wahl, denn im Mittelpunkt standen meistens Frauen, das tun und erleben zu sehen, was man sich selbst für sie ausdachte. Damals ging man, sagt der Fachmann, tatsächlich auch wörtlich ins Kino, "um den nächsten Cliffhanger" zu sehen. Das Kniff war Genre-Begriff geworden. 

    Und nun könnte man noch vieles referieren, über die Werbewirksamkeit in den mittags im Radio und dann im Fernsehen in Serien gesendeten Seifenopern etwa, oder über die Anschlussfähigkeit des Prinzips für heutige Verschwörungserzählungen, über die Vincent Fröhlich zuletzt ein Buch veröffentlicht hat: „#Der neue Konspirationismus“, in dem sich etwa jeder QAnon-Anhänger seine eigene Superserie zusammenbauen kann, immer zum Weitergraben geteasert … Aber bestünde dann nicht langsam die Gefahr, dass die Spannung abfällt? Erschöpft sich das nicht irgendwann mit dem Cliffhanger? Die tollste Geschichte dazu: In Stephen Kings Filmklassiker "Misery", fesselt bekanntlich eine Frau einen Schriftsteller ans Bett, um für sie weiterzuschreiben. Aber ihm solle bloß nicht einfallen, sie mit einem von diesen Cliffhangern betrügen zu wollen. Das habe sie schon als Kind gehasst: Immer mit eigenen Augen zu sehen, wie der Held, damals noch in den Kino-Cliffhangern, stirbt – bloß um in der Fortsetzung dann wieder erzählt zu bekommen, dass er es doch irgendwie geschafft habe zu überleben. Die hatten's dann wohl etwas übertrieben … 

    Aber ist das nicht auch heute so, da der Erfolg der Serien die Zahl der Anbieter, der Abos und noch viel mehr der Serien selbst auf eine unglaubliche Menge anwachsen hat lassen? Jede wiederum darauf angewiesen, im Wettbewerb Aufmerksamkeit zu finden und sie dann auch zu sichern und zu behalten? Gefragt nach einem besonders schlechten oder blöden Cliffhanger jedenfalls sagt Volker Klüpfel: "Alle gefühlten 37 pro Folge in der Serie ‚1899’ von den Machern der grandiosen Serie ,Dark’. Ein Cliffhanger stellt eine Frage, die Antwort darauf muss interessieren. Wenn nur ein Fragezeichen bleibt, wenn nichts ist, außer Ratlosigkeit, reicht es nicht." Der Meister des Spannungswerkzeugs für den Allgäuer Autor? "Das war mal Dan Brown zu seinen besten Zeiten – jedes Kapitelende ein Cliffhanger." Und ein besonders guter zuletzt? "Bester – und damit schlimmster – seit laaaangem: Staffelfinale von 'Severance'." Dazu nur so viel: Es geht darum, dass die Hauptfigur Mark entsetzt feststellen muss, dass die Menschen, die ihn umgeben, gar nicht das sein können, was sie zu sein scheinen …

    Vincent Fröhlich würde das einen "enthüllenden Cliffhanger" nennen, Kategorie zwei quasi, beliebt vor allem in Seifenopern. Eins ist der "gefahrensituative Cliffhanger", etwa das tatsächliche Hängen an einer Klippe, vorherrschende Form in den Kino-Cliffhangern der 1920 bis 1950er Jahre. Drei ist der "vorausdeutende Cliffhanger", der nichts vorwegnimmt, sondern nur ahnen lässt? Besonders heute beliebt, in kostspieligen Serien, die das Prestige des Streaming-Anbieters erhöhen sollen, wie es bspw. bei The Crown und House of Cards für Netflix der Fall ist. Letzterer werde zudem sehr intensiv im Laufe von Staffeln genutzt, damit man dranbleibt, meist auch noch im Wechsel in verschiedenen Handlungssträngen. Was der Medienwissenschaftler in der Folge ein "kumulatives Ende" nennt, heißt so viel wie: Es durchzieht ein ganzes Geflecht an Cliffhanger-Elementen die Serienhandlung. Auch kein Zufall, so der Experte, denn deren Variationsbreite biete sehr gute Möglichkeiten, die Episode, Geschichte oder Staffel zu strukturieren. Bloß, noch mal siehe: "Überstrapaziert werden sollte das nicht, damit man den Spaß behält." Spaß also. Oder auch die Freude am Nuckeln und Saugen? 

    Streaming-Serien bingen: Bloß noch nuckeln und saugen, zurück in Säuglingsgeborgenheit?

    Der Konsument Klüpfel jedenfalls sagt dazu: "Es gibt sicher einen Gewöhnungseffekt.“ Angenervt außer etwa im Fall von "1899“ ist der gelernte Journalist aber vor allem davon, dass die Teaser-Elemente inzwischen auch im Journalismus sehr viel Einsatz finden, um Leserinnen und Leser vor allem online über Bezahlschranken, aber auch gedruckt in die Artikel zu ziehen. Jede Menge Fragezeichen-Überschriften. Und Unterzeilen, die enden: "Und das hat einen Grund." Oder: "Jetzt ist ihr Schreckliches widerfahren." Oder: "Was der Kanzler dazu sagt." Klüpfel sagt: "Das ist genau das Gegenteil von Journalismus, dessen Kunst ja darin bestehen sollte, knapp zu informieren und nicht ausführlich Fragen aufzuwerfen.“ Der Thrillerautor Klüpfel wiederum sagt: "Es gibt Techniken zu Cliffhangern, die man sich aneignen und variieren kann, ja. Der Perspektivwechsel ist zum Beispiel eine beliebte Methode. Man unterbricht einen Handlungsstrang an einer spannenden Stelle, um mit einem anderen weiterzumachen, mit dem man dann genauso verfährt. Aber ob es zu viel ist oder nicht, darüber entscheidet das Gefühl.“ 

    Was den Allgäuer Erfolgsschriftsteller und Familienvater viel mehr beschäftigt, ist eine andere Frage: "Wie viele unfertige Geschichten kann ein Hirn verarbeiten?" Denn mit den Pausen zwischen Staffeln, meistens der Offenheit, ob es überhaupt weitergeht, und schließlich nicht selten auch der Tatsache, dass Serien tatsächlich eingestellt werden, ohne Entscheidendes aufgeklärt zu haben, kommt tatsächlich eine Riesenmenge an Unvollendetem zusammen. Und gibt es nicht sogar in der Psychologie noch dazu den sogenannten "Zeigarnik-Effekt"? Demnach bleiben im Gedächtnis des Menschen nicht beendete Aufgaben besser haften als abgeschlossene. Sammeln wir also auf der Flucht vor existenzieller Leere auch noch immer unverdaubare Bruchstücke an, die uns Gehirn und Gemüt verstopfen? 

    Herr Medienwissenschaftler? Fröhlich sagt, dass er das Publikum im Umgang damit inzwischen "für ziemlich abgebrüht" halte, was sich auch daran zeige, dass sich in der Masse der psychologische Effekt eben nicht nachweisen lasse, wir hätten inzwischen gelernt, auch loszulassen. Die Zerstreuung wirkt quasi. Und gerade der Versuch der Serienmacher, das zu durchbrechen durch immer noch eine Steigerung, bedeute im Meer des Angebots zunächst einen zunehmenden Stressfaktor, führe nach und nach zur Ermüdung: Stichwort "Serien-Fatigue". Läuft die Ablenkung von der Leere also früher oder später doch selber leer. 

    Aber interessant, so Fröhlich: Im Grunde spiegelt die Form der Serie ja unsere Zeit – denn das Leben in ihr sei ebenso fragmentiert und ungewiss, was Fortgang und Abschluss in all den einzelnen Strängen angehe. Im Gesamten könne man mit den Streaming-Serien also einerseits frei nach Umberto Eco wie in unserem Alltag auch erleben: die Wiederkehr des Immergleichen mit immer kleinen Varianzen. Und die Serialität sei schließlich ohnehin ein Signum der Moderne, mit ihren identischen Franchise-Ketten überall, in denen wir den Ausdruck unserer Individualität suchen, mit gleichbleibenden Produkten, die wir kaufen, der Treue zum iPhone, jetzt neu in Teil 14. Und die Serien fügten sich zudem genau darum so perfekt in unseren modernen Alltag ein: "Sie sind in Einzelstücken produziert, bereits zum Unterbrechen gedacht, zum leichten und schnellen Wiederanknüpfen konzipiert – und bieten so bei allem Stückwerk die vielleicht einzige Möglichkeit für viele, eine wirklich lange Narration noch zu verfolgen." Und in den besten Fällen teilten die Hauptfiguren doch unser Gefühl, in einer überkomplexen Welt zu leben, wie Walter White in "Breaking Bad" oder Tony Soprano. 

    Der Medienwissenschaftler hat seine Dissertation zu "Seriellem Erzählen" geschrieben und erklärt: Genau hier könne das allgemeine Muster brechen, in dem man die einen, unvollständigen Inhalte leicht ziehen lässt und durch andere, irgendwie spannend wirkende ersetzt - genau hier könne doch wieder das Besondere entstehen, wirkliche Bindung, Bedeutung. Zum Beispiel erzählt Fröhlich von Fans einer Serie namens "Jericho", die 2006 startete, 2008 eingestellt wurde und bei der noch heute eine kleine, aber sehr treue Gemeinde auf eine Fortsetzung warte, sogar als sogenannte "Fan Fiction" selbst die Geschichte schon weitergeschrieben hat: "Die Fans hoffen, dass irgendwann ihre Figuren wiederkehren, dass sie mit ihnen weiterleben können." 

    Der Mediziner Wolfgang Knüll und die Wissenschaft der Nahtoderfahrungen

    Denn das Rituelle in der Serie sorge auch für eine starke Gewöhnung an die Figuren, sie würden Teil des Alltags, Teil der Familie: "Man möchte sich sein Leben nicht mehr ohne vorstellen." Und wenn eine solche Figur dann auch von der Klippe stürzt, kann das wahr, muss das endgültig sein? Stirbt nicht unweigerlich die Hoffnung zuletzt, sie könnte nicht doch noch irgendwie wiederkehren? Ein mediales Ostern, das vielleicht einen Unterschied kenntlich macht zwischen der von Natalie Weidenfeld eingangs diagnostizierten "infantilen Wunschbefriedigung" im Unterhaltungsdauerdämmer einerseits – und andererseits der Vergegenwärtigung einer tatsächlichen existenziellen Klippe in der gespiegelten Fiktion. Vincent Fröhlich sagt: "Die Botschaft, dass es weitergeht, ist für Serienfans eine sehr hoffnungsvolle." Glaubenserlebnis per Streaming. Eine mediale Nahtod-Erfahrung? 

    Und damit nun schließlich zu Wolfgang Knüll, dem Arzt und seinen "aktuellen Antworten der Wissenschaft". Erweckt wurde er selbst, als er noch praktizierte, von einer direkten Begegnung mit einer solchen Erfahrung vor 45 Jahren. "Ein alter und gebrechlicher Patient" habe ihn frühmorgens angerufen und einen Hausbesuch verlangt. Und bei diesem dann erzählt, "dass er mitten in der Nacht aus einem Traum erwacht war, den er nicht als einen normalen Traum empfunden hatte. Es sei ihm alles wie in Wirklichkeit vorgekommen, vollkommen lebendig und eben ganz klar. Ein helles Licht habe er gesehen, alles sei warm und liebevoll gewesen und begleitet von einer wunderbaren Musik …" Das Langzeit-EKG des Mannes zeigte, wie Knüll es formuliert, dass er "letzte Nacht für ein paar Augenblicke sozusagen ein wenig gestorben" war. Aber damit geht es ja erst los, vier weitere Menschen, die von jenseits der Klippe zurückgekehrt scheinen, hat der Arzt im Lauf der Jahre behandelt, viele weitere, von Kollegen und Zeugen geschilderte Fälle hinzugefügt. Der Mediziner schreibt von Menschen, die sich selbst von oben auf dem OP haben liegen sehen und über die Vorgänge dort Dinge wussten, die sie unmöglich gesehen haben konnten, von Menschen, die ohne den kleinsten Rest eines intakten Gehirns kurz vor dem Tod noch einmal erwachten und sich bei klarem Bewusstsein und mit liebenden Worten von ihrer Familie verabschiedet haben … 

    Knüll schreibt dann auch noch ein bisschen wagemutig über Quantenphysik und die Grenzen der Wissenschaft, aber vor allem überzeugt: "Der Nahtoderfahrende stirbt eben gerade nicht, er erlebt das Lebendige in Reinform. Dieses Lebendige findet ersichtlich auf beiden Seiten statt: Im Leben bleibt es gebunden an die Anatomie, im Tod findet es sich befreit. Es ist offensichtlich nicht einmal teilbar durch das, was wir Tod nennen …" Und er beantwortet dann eben auch die Frage vom Beginn auf seine Art: "Was wären ideale Konsequenzen unseres Handelns, wenn wir die Nahtod-Erfahrung als Indiz oder sogar Faktum nehmen für ein endloses, fundamentales Bewusstsein akzeptieren, das sich als universelles, allwissendes, liebevolles Seiendes außerhalb von Raum und Zeit erfährt? Wenn Vorher, Jetzt, Nachher zusammenhingen, wenn jeder unserer Gedanken, jede Tat zählte, dann erschienen Kriege und Ausbeutung der Erde noch absurder, denn wir kämpfen ja immer nur gegen uns selbst." 

    So predigt der Mediziner. Materialismus und Optimierung und exzessiver Konsum wären ohne jeden Sinn – gerade weil es das, was durch sie oft verdrängt werde, gar nicht gebe. Knüll schließt: "Am Ende gehen wir nur dahin, woher wir kommen. Man muss vor nichts Angst haben, fast möchte ich sagen: im Gegenteil. Und damit soll es nun genug sein.“ Staffel- und Serien-Ende.

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