"Wer Literatur als etwas betreibt, das Ansprüche stellt, zieht die nötige Konsequenz und überschreitet die Drecklinie." Das schreibt Arno Geiger, österreichischer Schriftsteller, und natürlich einer, der Ansprüche stellt. Bestsellerautor, Deutscher-Buchpreis-Träger et cetera, et cetera. Das mit der Drecklinie ist bei ihm wörtlich gemeint.
Arno Geiger nämlich ist, nein, war etwa ein Vierteljahrhundert lang ein „Lumpensammler“, wie er sich an einer Stelle in seinem neuen Buch "Das glückliche Geheimnis" bezeichnet. Wobei das nun wiederum nicht wörtlich zu nehmen ist. Keiner also, der alte Kleider oder Stoffreste zusammenklaubt und weiterverkauft. Aber wer es gewusst hätte, wer ihm gefolgt wäre, auf seinen Streifzügen erst zu Fuß, dann mit dem Fahrrad durch Wien, der hätte einen Mann erlebt, der immer wieder anhält und sich dann kopfüber in die Papiercontainer stürzt, zwei dünne Beine herausragen lässt. Sein Geheimnis, sein glückliches Geheimnis, manchmal auch eines, für das er sich schämte, das das Unglück abrundete.
Das Buch nun ist jedenfalls ein erster feiner, seltsam glitzernder Fund des neuen Literaturjahres. Ein Essay, eine Erzählung, kopfüber taucht Geiger tief ein ins eigene Leben, beschreibt, wie sich ein Schriftstellerleben formt, wie sich ein Leben formt, Arbeit, Liebe, Zufall, Blödsinn. Und welche Rolle der Abfall in seinem Fall spielt. „Diese Offenheit passiert mir nicht einfach, ich entscheide mich bewusst für sie, weil ich glaube, dass sie das Leben sichtbar macht.“ Also rein ins Buch, kopfüber.
Erster Fund: Fünf Bananenkartons voller Bücher
Es beginnt mit einem Zufallsfund: fünf Bananenkartons voller Bücher. Darunter "Heidi" von Johanna Spyri, ein Katalog über Plakate zu einer Beuys-Ausstellung. "So geriet ich in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache." Ab dann geht Geiger, Jahrgang 68, auf Suche in den Wiener Bezirken, findet Briefkonvolute, alte Postkarten, Briefpapier, Prospekte, Briefmarkensammlungen, Zeitungen, Bücher, Plakate … Einiges bringt er zum Aktionshaus, anderes verkauft er dreimal im Jahr mit seiner Freundin auf dem Flohmarkt. Dabei verdient er zumindest so viel, dass es neben dem Sommerjob an der Bregenzer Seebühne auch nach dem Studium erst mal zum bescheidenen Leben in der Wiener Butze reicht und Zeit bleibt fürs Schreiben. "Während des Gehens überarbeitete ich meine beiden mit Anfang zwanzig geschriebenen Romane, die ich auswendig konnte." Es sind erfolglose Jahre für einen, der Ansprüche ans Leben stellt. Liebe, Arbeit, man klaubt aus diesem Buch auch immer wieder Fetzen von Trostlosigkeit. Dann wieder ein Stück federleichtes Glück.
Für den Verlag fühlt sich Schriftsteller Arno Geiger "so entbehrlich wie Dreck"
Er liest in Klagenfurt, der Münchner Hanser-Verlag veröffentlich sein Debüt, aber dann wird es schon wieder zäh mit dem Erfolg, kümmert er sich um den in die Demenz abgleitenden Vater am Vorarlberg, lernt seine später Frau kennen, radelt, sammelt, Stipendien, Affären. Und solche Sätze: "Schriftstellerisch hatte ich ebenfalls keine gute Zeit." Den dritten Roman will der Verlag eigentlich gar nicht veröffentlichen, so der Eindruck. "So entbehrlich wie Dreck."
Wie es dann weiterging mit dem Schriftsteller Geiger, weiß man natürlich. 2005 erhielt er für seinen Familienroman "Es geht uns gut" den erstmals ausgelobten Deutschen Buchpreis, in seiner Lebenserzählung sind auch dazu feine Fundstücke für am Buchgeschäft Interessierte. Der Verlag sendet das Buch für den Preis erst einmal gar nicht ein, der Lektor Wolfgang Matz schickt es an zwei Jurymitglieder, nachnominiert! Im vom Schwager geliehenen Anzug reist Geiger nach Frankfurt, sitzt neben Verleger Michael Krüger, von dem er schreibt, sie seien nicht immer nur Freunde gewesen. Der murmelt ihm zu: "Es hat geklappt mit dem Preis." – Geiger: "Wer sagt das?" – Krüger: "Der, der das Geld gibt." Ab dann ist er die Erfolglosigkeit los, ab in die Tonne.
Arno Geiger schwärmt von Alltagstexten, dem Ungekünstelten
Was man aber im Buch findet, interessanter als solche Anekdoten, ist das Geheimnis im Geheimnis: Wie nämlich das Sammeln von Weggeworfenem, das Sichten und Lesen, das Schreiben von Arno Geiger bereichert. Wie es ihn als Schriftsteller beeinflusst, er sich in einem Erfahrungsraum bewegte, "dessen hinterste Winkel mir mehrfach gefundene Briefe und Tagebücher ausgeleuchtet hatten". Er schwärmt von Alltagstexten, Hingeschmiertem, vom Rauen, Unbekümmerten, Ungekünstelten und beschreibt die literarische Wiederverwertung der Funde. "Ohne die Impulse von außen würden viele Nuancen fehlen, das Gefühl für unterschiedliche Zeit- und Sprachebenen, Unmengen von Alltagsdetails." Containern nach Geiger-Art.
Wobei man im Buch nun auch dies entdeckt: Dass ein Geheimnis dem Geheimnisträger oft größer erscheint, als es ist. Niemand wird Geiger nachträglich anzeigen, niemand mit dem Finger auf ihn zeigen, seht da, das ist doch dieser Abfallklauber. Wenn Geiger von seinem Doppelleben schreibt, dessen dunkler Deckmantel nun am Boden liege, klingt das seltsam überhöht: "Hier das Leben als öffentliche Person. Dort das Leben als Lumpensammler in den Straßen." Und in der Scham, einer Tätigkeit nachzugehen, "die üblicherweise Sache der Ausgestoßenen ist", spiegelt sich ja im Grunde nur der eigene bürgerliche Blick.
Was dieses Buch aber zum wertvollen Lesefund macht, ist dann tatsächlich die berührende und charmante Offenheit, mit der Geiger seinen Werdeprozess beschreibt, Arbeit, Liebe, Zufall, Glück. Ein Werkstattbericht, in dem Geiger vielleicht um das Geheimnis etwas viel Gewese macht, nicht aber um sich selbst und sein Werk. Was im Übrigen nicht ausbleiben konnte, ein Zeichen für seinen Erfolg: In der Tonne findet Geiger schließlich auch ein Buch von sich selbst …