Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck (57) hat zusammen mit dem Übersetzer Michael Hofmann den renommierten International Booker Prize für ihren Roman "Kairos" erhalten - als erste deutsche Autorin überhaupt. Der Literaturkritiker Peter Mohr blickt in das Werk:
Ein Staat liegt in seinen letzten Zügen und eine Liebesbeziehung geht in die Brüche. Die Rede ist von der DDR und von einem unkonventionellen Paar, das die 54-jährige Berlinerin Jenny Erpenbeck ins Zentrum ihres Romans "Kairos" gestellt hat. Die Liaison zwischen Schriftsteller Hans, Anfang 50, und der Bühnenbildnerin Katharina, 19, derenVita einige Parallelen zu der von Erpenbeck aufweist, beginnt auf einer Busfahrt im Juni 1986. Hans führt seine junge Geliebte in die Ostberliner Boheme ein, die als völlig autonome Lebens- und Gefühlswelt dargestellt wird, wo die Stimmung stets zwischen Revolte und Anpassung, zwischen Avantgarde und sozialistischem Realismus hin- und her wabert.
Gewinnerin des International Booker Prize: So liest sich Erpenbecks "Kairos"
Katharina himmelt den erfolgreichen Schriftsteller an, Hans scheint Heiner-Müller-Stücke mit seiner jungen Geliebten im Privatleben nachspielen zu wollen. Alles wirkt überhöht, dramatisch zugespitzt, der Alltag scheint sich in eine Inszenierung zu verwandeln. Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman das Liebes-Aus und den Untergang der DDR effektvoll in seiner Simultanität dargestellt. Am ersten Abend zitiert Hans zwischen ersten Küssen ganz schnell "seinen" Brecht und legt Mozarts "Requiem" auf den Plattenteller. Liebe und Tod, Neuanfang und Ende gehören hier zusammen, und immer wieder gibt es offene oder latente Bezüge zum Dramatiker Heiner Müller, dessen Assistentin 1993 bei seiner "Tristan und Isolde"-Inszenierung in Bayreuth Erpenbeck war.
Das ist von der Autorin mehr als hochambitioniert konstruiert, bisweilen ermüden die Anspielungen bei der Lektüre, und Hans, Katharina und die anderen Figuren drohen ihre eigene Romanidentität zu verlieren und in Theaterfiguren überzugehen. Auch die Moskaureise des Paares wird aufpoliert wie für einen Hochglanzreisekatalog früherer Jahre. Der einzige Haken: Man glaubt, man sei an der Seine und nicht an der Moskwa.
Einer der besten Romane über das Ende der DDR: Jenny Erpenbecks "Kairos"
Ja, in diesem Roman ist auch ganz viel von Sehnsüchten die Rede, von der Suche nach dem Außergewöhnlichen. Das Außergewöhnliche lässt sich aber nur selten mit gelebter Doppelmoral in Einklang bringen. Daran scheitert dann auch kläglich die Beziehung. Hans ist verheiratet, will Frau und Kind nicht aufgeben, während Katharina von ihm nach einer mit einem jüngeren Mann verbrachten Nacht energisch zur Rede gestellt wird. Sie belaste die Beziehung, lautet die Quintessenz aus Hans’ Anschuldigungen.
Als „Kairos“ wird in der griechischen Mythologie ein von Gottbestimmter günstiger Augenblick, um eine Entscheidung zu treffen, bezeichnet. Aber für wen ist der Zeitpunkt günstig? Während Katharina emotional leidet und am Ende des Romans Hans’ Stasi-Akte studiert, analysiert der verkopfte Schriftsteller das Ende wieder bühnenreif: "Widerstand ist es nicht, nur etwas wie Desinteresse, politische Müdigkeit, die zu ihrer Jugendin einem ihm nicht ganz geheuren Missverhältnis steht."
Jenny Erpenbeck, deren Romane in über 30 Sprachen übersetzt wurden, hat mit "Kairos" keinen Pageturner vorgelegt, sondern ein leicht ausfransendes Erzählmonstrum, das nicht gelesen, sondern bezwungen werden will. Wer sich darauf einlässt, wird belohnt – mit einem intelligenten, tiefgehenden Einblick in das Seelenleben zweier höchst unterschiedlicher Figuren in der ehemaligen DDR der ausgehenden 1980er Jahre. Überaus wohltuend: Es gibt weder Schadenfreude noch Besserwisserei. Stattdessen hier und da subtile humoristische Einsprengsel und ein Höchstmaß an emotionaler Authentizität. Ganz sicher einer der aufrichtigsten und besten Romane über den Niedergang der DDR.