Der Skandal gehört fest zu Kunst: Das liegt im Wesen der Künste, die ständig dabei sind, Grenzen zu verschieben. Die Literatur ist voller Bücher, die Menschen erzürnt haben: staatliche Zensoren, den Geschmack des breiten Publikums, einzelne Personen, die sich unlauter dargestellt fühlen. Jetzt, pünktlich zur Leipziger Buchmesse, erschien Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman "Noch wach?", angekündigt als Springer-Enthüllungsroman. Man kann sich nach ein paar Tagen fragen: Was ist eigentlich aus den Literaturskandalen geworden?
Hier greift ein Autor ja nicht nur direkt das größte deutsche Medienhaus an, sondern beendet gleichzeitig auch noch öffentlichkeitswirksam seine Freundschaft mit Mathias Döpfner, dem Springer Vorstandsvorsitzenden. Nun heißt es zwar, dass die Anwälte von Ex-Bild-Chef Julian Reichelt rechtliche Schritte prüfen. Aber: Erregungskurven waren schon einmal steiler, höher und ausgeprägter. "Noch wach?" beschäftigt die Feuilletons des Landes, aber jenseits davon erzeugt der Roman nicht viel mehr Aufregung. Der deutsche Skandalroman des Frühjahrs 2023, über den landauf, landab diskutiert wird? Nein.
Ist die große Zeit des Romans vorbei?
Erst jüngst hat der amerikanische Skandal- und Bestseller-Autor Bret Easton Ellis in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gesagt, dass die große Zeit des Romans vorbei sei, Romane nicht mehr Teil des Diskurses der Intelligenzija seien. Natürlich gehört es auch schon lange zum guten Ton des literarischen Lebens, den eigenen Niedergang und die drohende Bedeutungslosigkeit zu beschwören. Die Behauptung als reine Plattitüde zur Seite wischen wäre allerdings falsch. Der amerikanische Schriftsteller legt den Finger in die Wunde und liefert möglicherweise auch einen Grund, warum skandalträchtige Bücher nicht mehr diese großen Ausschläge erreichen, auch wenn weiterhin viel gelesen wird.
Die literarischen Skandale, die in den sozialen Netzwerken ihren Hauptschauplatz haben und nicht nur die Feuilletons umtreiben, sind heute anders gestrickt. In denen geht es nicht so oft um Bücher, die gerade frisch auf den Markt kommen, sondern um Werke, die sich festgesetzt haben. Zuletzt traf es Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras", erschienen 1951. Eine Lehrerin aus Ulm hat sich geweigert, den Roman als Pflichtlektüre mit ihren Schülerinnen und Schülern zu lesen. Ihr Argument: Der Roman verletze mit seiner rassistischen Sprache die Gefühle von Menschen. Seitdem tobt die Diskussion hin und her.
Auch um die "Winnetou"-Bücher gibt es Diskussionen
Anderes Beispiel, ein wenig länger her: der Ravensburger Verlag und sein Begleitbuch zu einem neuen Winnetou-Film, das der Verlag zurückgezogen hat. Der Vorwurf: klischeehafte Darstellung indigener Völker. Oder, weiteres Beispiel: die Diskussion um den Puffin Verlag, der die Werke des Oberzynikers Roald Dahl neu herausgegeben hat, in einer Fassung, die potenziell verletzende Begriffe durch freundlichere ersetzt hat. Oder, noch ein Beispiel: bestimmte Werke von Astrid Lindgren, etwa den N-König bei "Pippi Langstrumpf", der in neuen Auflagen durch Südseekönig ersetzt ist.
Über Literatur wird also noch gestritten, Literatur wird auch skandalisiert. Allerdings ist sie nur ein Schauplatz der viel größeren gesellschaftlichen Debatte, den "woke" Aktivistinnen und Aktivisten in ihrem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus auf verschiedenen Feldern bei hohen emotionalen Ausschlägen lostreten. Die Bücher selbst sind dabei jedoch nur Stichwortgeber und Symbole.