Carolina Krogius betritt zur Ouvertüre von Bizets Oper „Carmen“ die Bühne, lasziv im kleinen Schwarzen, spielt mit einem roten Chiffontüchlein – sich der Reize der Figur, die sie mimt, ihrer Lust, ihres freiheitsliebenden Sehnens wohl bewusst. Ein paar Szenen später erscheint Carmen im blutroten Flamenco-Kleid mit atemberaubend langer Rüschenschleppe und stimmt im Kreis der Arbeiterinnen und Soldaten ihre berühmte „Habanera“ an, „L'amour est un oiseau rebelle“.
Die Liebe ist ein wilder Vogel
„Die Liebe ist ein wilder Vogel, den kein Mensch jemals zähmen kann.“ Eigentlich wird in dieser bezaubernden Arie schon alles gesagt, was Liebe sein könnte, wenn sie denn sein dürfte, was sie wollte. Würde man den Satz einem sturmerprobten Mannsbild auf die Lippen legen – die Männer würden es beneiden, die Frauen umschwärmen. Aber eine Frau mit der Sehnsucht nach Freiheit, Unabhängigkeit, Wildheit? Eine Hure. Eine Hexe.
Wer in „Carmen“ mehr hört als die fantastische Musik und mehr sieht als die Bestätigung der Dauer-Klischees von spanischer Leidenschaft, ewig lockendem Weib, von Machismo und pflicht- wie triebgesteuerten Männern, die ausrasten, wenn sie ihre Besitztümer davonfliegen sehen, wer also in „Carmen“ mehr sieht als das, dem wird die Meininger Inszenierung von Jasmina Hadžiahmetoviæ Balsam auf die wunde Seele sein.
Das Volk feiert das Leben und den Tod
Die Regisseurin bringt Carmens tieferes Sehnen in lyrischen Gedanken der expressionistischen Dichterinnen Else Lasker-Schüler und Edith Södergran zum Vorschein und verzichtet auf Rezitative und Zwischendialoge der deutsch übertitelten Oper. Mit Carolina Krogius, Elif Aytekin (Micaëla), Monika Reinhard/Sonja Freitag (Mercedes) und Marianne Schechtel (Frasquita) setzt sie starke Sängerinnen in Szene und konfrontiert sie mit glaubwürdigen männlichen Gegenspielern in Gestalt von Ondrej Šaling (Don José), Shin Taniguchi (Escamillo), Mikko Järviluoto (Zuniga) und Marián Krejèík (Morales).
Hadžiahmetoviæ, ihr Kostümbildner Christian Robert Müller und die Chor-, Extrachor- und Kinderchorleiter Martin Wettges, André Weiss und Sebastian Fuhrmann umgeben die Hauptdarsteller mit allerlei Volk, das bunt und grau, ja sogar mit Schädeln maskiert, das Leben und den Tod feiert und die Stimmungen der Liebenden und Leidenden der Welt verkündet.
Verschüttetes Element wahrhaftiger Liebe
Nichts äußerlich Gewaltiges stört den anrührenden Gesang und das Klanguniversum, das die Meininger Hofkapelle mit Generalmusikdirektor Philippe Bach am Pult souverän um die Handlung legen. Keine Fabrikmauern. Keine Arena. Nur ein wie eine Zirkusmanege mit Glühbirnchen umranktes Karree markiert die Rampe, die als Spielfläche dient (Bühnenbild: Christian Rinke und die Regisseurin).
Aus dem Theaterhimmel herabhängende Tabakblätterbündel, fallendes Herbstlaub, ein paar Stühle und Kisten sind die einzigen Fragmente von Kulisse. Spiel, Bewegung, Farbe, Licht – das reicht, um Carmen von ihrem hartnäckigen Ruf als „Femme fatale“ zu erlösen und ein verschüttetes Element wahrhaftiger Liebe freizulegen: „Ein offener Himmel, als Heimat die Welt, als Gesetz dein eigener Wille und vor allem das Berauschendste: Die Freiheit!“
Nächste Vorstellungen: 14. Oktober, 15 Uhr, 31. Oktober, 9., 17 November, jeweils 19.30 Uhr, 25. November 19 Uhr. Tel. (0 36 93) 45 1 2 22 www.meininger-staatstheater.de