Eine Viertel-, vielleicht auch eine halbe Stunde lang wird dann eine lustige Geschichte aufgeführt – von untreuen Ehefrauen und lüsternen Pfaffen, von verschlagenen Studenten, wilde Weibsbilder, tölpelhaften Bauern. Dann ziehen die Spieler in die nächste Kneipe. Solche Szenen waren im 15. und 16. Jahrhundert in vielen deutschen Städten fester Bestandteil der Karnevalskultur. Aus Nürnberg ist bekannt, dass diese „Fastnachtsspiele“ von den Handwerkerzünften organisiert wurden. Die Gesellen hatten einen Spielführer an ihrer Spitze, „Hauptmann“ genannt, der vom Stadtrat die Erlaubnis eingeholt hatte, in den Wochen vor Aschermittwoch mit einer Gruppe umherziehen zu dürfen.
Wie die großenteils noch erhaltenen Ratsakten belegen, war die Erlaubnis regelmäßig mit einer Auflage verbunden: Die Spieler durften keine Masken tragen. Das sollte verhindern, dass einer unter dem Schutz der Anonymität über die Stränge schlug. Oft wurde die Gruppe auch ermahnt, nur „zuchtige reimen“ zu gebrauchen, also von allzu unflätigen Texten abzusehen. Das half indes wenig. Allein aus Nürnberg sind mehr als 100 Texte überliefert, die zeigen: Eine wohlanständige Sprache, wie sie die deutsche Komödie seit dem 18. Jahrhundert geprägt hat, war beim Publikum des späten Mittelalters nicht gefragt. Vor allem die frühen Stücke strotzen nur so von sexueller und fäkaler Metaphorik.
Die Anfänge des Fastnachtsspiels waren noch von der Stegreifdichtung geprägt. Es gab so gut wie keine Requisiten. Gelegentlich wurde vielleicht ein Thron benötigt, um einen Spieler als König zu markieren – man nahm einen Wirtshausstuhl. Auch eine Handlung gab es zunächst nicht. Die Spieler brachten der Reihe nach ihre Sprüche vor. Doch entwickelte sich aus den Kneipenbesuchen eine Form volkstümlichen Theaters: das Fastnachtsspiel. Eines der ältesten erhaltenen Spiele entstand um 1445, geschrieben hat es vielleicht der Nürnberger Büchsenmeister Hans Rosenplüt, In knapp 100 Versen geht es um einen Rechtsstreit. „Fastnacht“ und „Fastenzeit“ pochen jeweils auf ihren Vorrang, der Richter und die fünf Schöffen geben nacheinander ihr Urteil ab. Die Schlussverse machen deutlich: Fastnacht und Fastenzeit, zielen auf Ostern hin, auf das Fest der Erlösung.
Der Gedanke an die bevorstehende Fastenzeit war, bei allem Trubel, stets präsent. Die „Gouchmat“ des Basler Buchdruckers Pamphilus Gengenbach aus dem Jahr 1516 ist denn auch von Aschermittwochsstimmung durchzogen. Gengenbach brachte eine ganze Versammlung liebestoller Narren auf seine Fastnachtsbühne. Fazit des Spiels: Alle suchen die Erfüllung, niemandem wird sie gewährt.
Besonders gern amüsierten sich die Bürger im späten Mittelalter über Mönche und Priester, die im Verdacht standen, Ehefrauen und Töchter ihrer Schäflein verführen zu wollen. Auch die Bewohner des Umlandes wurden verspottet. Der dumme Bauer war die beliebteste Figur in diesen Stücken. Es gab aber auch die verkehrte Welt. Aus der Feder des Nürnberger Barbiers Hans Folz stammt ein Disput zwischen dem biblischen König Salomon und dem Bauern Markolf – und der Bauerntölpel triumphiert.
Folz wollte, wie auch andere Fastnachts-Autoren, aber nicht nur lustig sein. Fast ein Zehntel der Nürnberger Stücke, berichtet der Literaturwissenschaftler Dieter Wuttke, wollten keinen Beitrag zur Unterhaltung leisten, sondern den Trubel durch Besinnung unterbrechen. In diesen Stücken der mittelalterlichen Faschingsmuffel geht es um Glauben, Fasten und Auferstehung, um Christen und um Juden. Zwei von Folz' Fastnachtsspielen gipfeln in der öffentlichen Demütigung und Misshandlung von Juden. Karneval hatte im Rahmen des Kirchenjahres – und im theologisch-mittelalterlichen Weltbild – seinen Sinn. Das Ende der Tradition kündigte sich an, als Martin Luther 1519 in seinem „Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ jede theatralische Darstellung der biblischen Geschichte rigoros abwertete. Doch schnell wurde auch der Kampf der Konfessionen zum Gegenstand von Fastnachtsspielen. In Bern wurde das Fastnachtsspiel in den Dienst der Reformation gestellt. Die Stücke eines Niklaus Manuel aus den 1520er Jahren sind Kampfdramen gegen den katholischen Klerus und den Papst. Die Freie Reichsstadt Nürnberg verhielt sich vorsichtig. Es ist nur ein einziges Fastnachtsspiel mit antikatholischer Polemik bekannt. Es wurde nach wenigen Aufführungen vom Stadtrat verboten. Der große Dichter des Fastnachtsspiels war Hans Sachs. 85 kleine Komödien soll der Nürnberger Meistersinger von 1517 bis zu seinem Tod 1576 geschrieben haben.
200 Jahre später wurde Hans Sachs wiederentdeckt; 1777 führte Goethe eines seiner Spiele vor der Weimarer Hofgesellschaft auf – es war die Zeit, als die gebildeten Schichten ihr Interesse für „Volkskultur“ entdeckten. Goethe selbst hatte zuvor schon mit der alten Form experimentiert. Sein „Fastnachtsspiel vom Pater Brey“ handelt von einem lüsternen Geistlichen. Goethe mahnt: „Ihr Jungfrauen, lasst euch nimmer küssen von Pfaffen.“ Eine neue Gattungstradition entstand trotz der Bemühungen des Dichterfürsten jedoch nicht.
Die alte, volkstümliche Karnevalskultur – heute würde man von „Straßenkarneval“ sprechen – war weitgehend gestorben. Das Volk fürchtete die Geistlichen beider Konfessionen, die gegen die sündhaften Ausschweifungen an Karneval wetterten. Adel und Bildungsbürgertum amüsierten sich auch in der Fastnachtszeit an der Oper. Und was heute auf Prunksitzungen praktiziert wird, ähnelt mehr einer Revue als den Fastnachtsspielen eines Hans Sachs.