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SCHWEINFURT: Der Straßenköter-Sexappeal des Ben Becker

SCHWEINFURT

Der Straßenköter-Sexappeal des Ben Becker

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    „Mehr Pathos geht nicht, oder?“ Ben Becker und Pianist JoJo Röhm nach dem Auftritt beim Schweinfurter Nachsommer in der Kunsthalle.
    „Mehr Pathos geht nicht, oder?“ Ben Becker und Pianist JoJo Röhm nach dem Auftritt beim Schweinfurter Nachsommer in der Kunsthalle. Foto: Foto: Laszlo Ruppert

    Es scheint eine Art Versteckspiel zu sein: Man wird das Gefühl nicht los, als wolle Ben Becker unbedingt verhindern, dass wir herausbekommen, wer das wirklich ist, Ben Becker. Als fürchte er, dass wir ihm irgendwie zu nahe kommen.

    Dabei wäre diese Sorge ohnehin unbegründet. Das Publikum ist vollauf zufrieden mit dem Sortiment an Ben Beckers, das es angeboten bekommt bei diesem Nachsommer-Auftritt in der Schweinfurter Kunsthalle. Ben Becker, der Aufbrausende; Ben Becker, der Plauderer; Ben Becker, der Spötter; Ben Becker, der Rüpel, und natürlich Ben Becker, der Verletzliche. Er achtet streng darauf, dass sich hinter der changierenden Fassade nicht doch der Mensch Ben Becker abzeichnet.

    Brocken ins Haifischbecken

    Aber wir wissen ohnehin, dass da oben ein Schauspieler sitzt, der uns die Anekdoten aus seinem Privatleben hinwirft wie man Fleischbrocken in ein Haifischbecken wirft – die Meute will eben unterhalten sein. Dieselben Brocken hat er der Meute in Reutlingen hingeworfen, und dieselben Brocken wird er der Meute in Heidenheim und in Aachen hinwerfen. Dass etwa die Familien Ganz und Becker/Sander/Hansen nicht mehr gemeinsam Weihnachten feiern, seit Bruno Ganz einmal volltrunken in den Jugendstil-Spiegel von Beckers Mutter Monika Hansen gekracht ist, wäre unter anderen Umständen vielleicht eine allzu private Enthüllung. Bei Ben Becker ist sie wohlkalkulierter Baustein der Selbstinszenierung.

    Woran absolut nichts auszusetzen ist. Wir, das Publikum, haben keinerlei Anrecht auf Einblicke in seine Seele. Und doch bleibt die Versuchung. Becker liest aus der Gedichtsammlung „Der ewige Brunnen“, und schon seine Auswahl der Balladen könnte zum spekulieren verleiten. Er scheint besonders die dramatischen, die tragischen und die moralischen zu lieben. Die sind auch wie gemacht für die Abgründe, die sich so wunderbar mit dieser Kontrabass-Stimme auftun lassen. In Heines „Belsazar“ etwa. Oder in Schillers „Handschuh“. Den „Erlkönig“ gibt er als beklemmendes Gruselstück, Hebbels „Heideknabe“ als bestürzende Studie tödlicher Unausweichlichkeit. Am Klavier unterlegt JoJo Röhm (den Becker nicht vorstellt) einzelne Passagen mit chansonartigen Begleitfiguren – weniger Illustration oder Kommentar als vielmehr klangliche Erdung, die oft gar nicht auf die Stimmung des Gedichts eingehen will.

    Das Buch ist seit über 50 Jahren so etwas wie die Lyrik-Bibel des deutschen Bildungsbürgertums, es vereint die Klassiker wie Goethe, Schiller, Heine oder Rilke mit kleineren Meistern. Wie Otto Ernst. Dessen hochdramatischer Ballade „Nis Randers“ über eine Rettung zur See und einen wundersam wiedergefundenen Sohn gibt sich Becker ganz und gar hin. Um anschließend zu verraten, wie komisch er das Gedicht eigentlich findet: „Mehr Pathos geht nicht, oder?“ Einer Frau im Publikum („eine rothaarige Hexe“), die daraufhin einmal sauer reagierte, habe er geraten, „lesen Sie den Schwachsinn doch selber“, erzählt er, und lacht sein ansteckendes, polterndes Lachen. Dann lehnt er sich zurück, streckt den Rücken durch, fährt sich mit der totenkopfberingten Hand durchs blonde Haar und schaut in den Saal, als wolle er sich jemand suchen, den er zu irgendeiner Art Auseinandersetzung herausfordern könnte. Als in einer stillen Sekunde – verbotenerweise – eine Kamera klickt, sagt er: „Das habe ich genau gehört. Hören Sie auf zu fotografieren, oder ich komme runter!“

    Er pflegt diesen Straßenköter-Sexappeal, und vor allem die Damen wissen ihn zu schätzen. Als er nach einem grandiosen „Zauberlehrling“ über Goethes Lebenswandel sinniert – „gegessen, gepichelt, gepimpert und den Zauberlehrling geschrieben“ –, ist die Freude groß.

    Fischer-Dieskau und Tom Waits

    Respektlosigkeit als Haltung, ein wenig auch als Pose: „Geh weg da, du Pfeife, ich muss jetzt auf die Bühne“, habe er einem Mann zugerufen, der an der Bühnentür wartete. Der Mann entpuppte sich als vermeintlicher „Oberbürgermeister Schneider“, was Becker ganz besonders vergnügt. Was er irgendwie nicht mitbekommen hat: Schneider ist Leiter der Kunsthalle und nicht OB – ein Irrtum, der wiederum dem Publikum größtes Vergnügen bereitet. Becker jedenfalls macht den Namen zum Running Gag des Abends, auch wenn er nicht wissen kann, warum die Pointe jedes Mal so wunderbar zündet.

    Wenn er singt, klingt es, als habe man Fischer-Dieskau und Tom Waits gekreuzt, sehr schön jedenfalls, sehr innig. Und wenn er Ringelnatz' Miniatur von den zwei Ameisen vorträgt, die nach Australien reisen wollten, oder Uhlands „Der weiße Hirsch“ über drei Jäger, die lieber reden als jagen, wenn er also die Gedichte selbst sprechen lässt, dann klingt das weitaus subversiver als wenn er sich über Guido Westerwelle lustig macht oder eben das Pathos eines Otto Ernst.

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