Die Sache mit den importierten Skeletten mag heute skurril erscheinen. Doch sie beleuchtet ein Kapitel christlicher Glaubensgeschichte. Schauplatz ist Zell, ein Viereinhalbtausend-Seelen-Marktflecken bei Würzburg, an den Ufern des Mains.
Begonnen hat die Geschichte allerdings an den Ufern des Tibers in Rom. Dort entdeckten Weinbergsarbeiter 1578 eine Höhle. Die entpuppte sich als Eingang zu einem kilometerlangen Tunnelsystem, voll von Gebeinen und Skeletten. Die sogenannten Katakomben waren offenbar als Begräbnisstätte genutzt worden – für frühe Christen, mutmaßte man. Durchaus logisch: Nicht christliche Römer wurden seinerzeit feuerbestattet. Weniger logisch ist, dass die Verstorbenen flugs zu Märtyrern erklärt, zu Heiligen befördert und ihre Gebeine zu Reliquien geadelt wurden.
Wirklich offiziell war das zwar nicht, und keiner der Verblichenen wohl nach Kirchenrecht heiliggesprochen. Doch in manchen Landstrichen habe Reliquienmangel geherrscht, so der US-Kunsthistoriker Paul Koudounaris: Eifrige Reformatoren hatten einiges beiseitegeschafft. Luthers Gefolgsleuten galt die Verehrung von Knochen als abergläubisches Ritual. In der Bibel stehe davon nichts, verlautbarte Doktor Luther sachlich richtig und verurteilte den Reliquienkult „als ein vollständig unnötig und unnütz Ding“.
Das Konzil von Trient hielt dagegen und beschäftigte sich 1563 in seiner 25. Sitzung mit der Reliquienverehrung: „Auch die heiligen Leiber der heiligen Märtyrer . . . sind zu verehren“, setzte man fest und verurteilte „wenn Leute behaupten, man schulde den Reliquien keine Verehrung“. Das ging direkt gegen die Reformatoren.
Katholiken konnten, dank des hochoffiziellen Dekrets, nun guten Gewissens an dem Brauch festhalten. Im Volk glaubte man ohnehin an die wundertätige Macht angeblicher oder echter Heiligenknochen. Die Zurschaustellung von Gebeinen kam zudem dem Zeitgeist des Barock entgegen. „Memento mori“-Bilder mit Schädeln und Knochen, die an irdische Vergänglichkeit erinnern, hatten Konjunktur.
All das förderte die Nachfrage, die Reliquienhändler nach der Entdeckung der Katakomben mit Leichtigkeit bedienen konnten. Ab dem späten 16. Jahrhundert setzte 200 Jahre lang eine Art Leichentourismus über die Alpen ein. Zu Hunderten wurden Gebeine aus den Katakomben in – nicht nur deutsche – Kirchen und Klöster transportiert. „Katakombenheilige“ nennt man sie heute, zur Unterscheidung von ordentlich heiliggesprochenen Männern und Frauen.
Üblicherweise wurden die neuen Reliquien bekleidet und reich ausgestattet, oft mit echten Diamanten und Edelmetallen, mit Kleidern voll Goldbrokat und Spitze. Das sollte schon mal einen Vorgeschmack aufs „Himmlische Jerusalem“ geben, wie es die Offenbarung des Johannes verheißt, also auf Auferstehung und Leben im Jenseits.
Weil die meisten Gräber in den Katakomben anonym sind, wurden Lebensläufe und Namen erfunden. Nicht immer gingen Reliquienhändler und -käufer dabei kreativ vor. Angebliche Märtyrer-Gebeine wurden schon mal heiliger Anonymus, heiliger Incognitus (Unbekannter) oder heiliger Innominabils (Namenloser) getauft. Der Vatikan stellte, quasi fließbandmäßig, zweifelhafte Echtheitsdokumente aus, berichtet Koudounaris in seinem Buch „Katakombenheilige“.
Ins Kloster Unterzell bei Zell am Main kamen im Zuge des Reliquien-Booms die sterblichen Überreste zweier Männer namens Alexander und Calepodius im Jahr des Herrn 1730, so viel scheint sicher. Ansonsten gibt es Varianten der Geschichte. Der Legende nach, so schrieb der ehemalige Kreisheimatpfleger Peter Högler in seinem Buch „Aus dem Sagenschatz des Landkreises Würzburg“, sollten sie nach Köln geschafft werden, jedoch: Beim Kloster Unterzell blieb die Barke ohne erkennbare Ursache auf dem Main hängen, ein göttliches Zeichen wohl. „Da lud man die kostbaren Leiber aus und brachte sie in die Krypta des Klosters.“
Koudounaris, der als Spezialist für die makabren Seiten der Kunstgeschichte gilt, referiert das spätere Schicksal der Skelette so: „Wie vielen anderen Katakombenheiligen schlug auch ihnen die Stunde, als das Kloster 1803 säkularisiert wurde“, und: „Man pickte die Juwelen von den Gebeinen, die Gebeine selbst sollten entsorgt werden – doch bevor es dazu kommen konnte, verschwanden sie auf mysteriöse Weise.“
Das „Fränkische Volksblatt“ vom 27. September 1929 erklärt dieses angebliche Mysterium so: Der „hochw. Herr Pfarrer Ignaz Werner“ habe den Befehl zur Beseitigung von Alexander und Calepodius (den die Zeitung „Calapodius“ nennt) nicht befolgt, „sondern nahm die Reliquien in Begleitung einiger mutiger verschwiegener Männer an sich und brachte sie in seine Wohnung“. Koudounaris spinnt die Geschichte dann – spektakulär und abenteuerlich, aber womöglich übertrieben – weiter: „Über ein Jahrhundert lang war ihr Versteck unbekannt, während sie im Geheimen von einer Wächtergeneration an die nächste weitergereicht wurden. 1905 schließlich schenkte man sie der Stadtkirche St. Laurentius, wo sie noch heute aufbewahrt werden.“ Im Buch von Heimatpfleger Högler liest sich's weniger mystisch: Pfarrer Ignaz Werner habe die Reliquien „ersteigert“. In der Zeller Pfarrkirche wurden sie dann „bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in den Seitenaltären ausgestellt und einmal im Jahr öffentlich verehrt. Die Transferierung in die Pfarrkirche fand am 24. Mai 1824 statt“. 1928 wurde die prächtige Bekleidung der Skelette laut „Volksblatt“, bei den Sternschwestern in Augsburg „neu gefasst“. So geschmückt, ruhen die Leiber heute im Dunkel einer Kapelle der Zeller Pfarrkirche.
Und die Geschichte vom hängen gebliebenen Boot bei Kloster Unterzell? Reine Legende. Laut Höglers „Sagenschatz“ hatte Kloster Unterzell die Katakombenheiligen ganz herkömmlich in Rom erworben. Für Köln waren die Gebeine nie bestimmt.
In jedem Fall sind die Zeller Reliquien Raritäten. Koudounaris listet, innerhalb von Franken, Vergleichbares nur noch in Dinkelsbühl auf.
Paul Koudounaris: Katakombenheilige. Verehrt – Verleugnet – Vergessen (Grubbe, 192 Seiten, mit zahlreichen Farbbildern, 24,95 Euro)