Anfang des Jahres wurde Carla Juri (28) auf der Berlinale als Shootingstar gefeiert. Mit ihrer Hauptrolle in dem Film „Feuchtgebiete“ (eine Besprechung des Films finden Sie oben) gehört sie nun zu den spannendsten Kino-Neuentdeckungen. Die Verfilmung des Bestsellers von Charlotte Roche verlangt ihr einiges ab: Immer wieder ist sie nackt zu sehen, masturbierend in der Badewanne, beim erotischen Rasieren mit einem Arbeitskollegen oder nach einer Hämorrhoiden-Behandlung. Ein Gespräch über Nacktheit und die Kunst.
Frage: Der Roman „Feuchtgebiete“ wurde beim Erscheinen heftig diskutiert. Nun hat der Film in Locarno begeisterte Reaktionen hervorgerufen . . .
Carla Juri: Ich hab' das Gefühl, die Reaktionen waren unterschiedlich. Ich fand es aber schön, dass der Film diese Komplexität eines Menschen zugänglich gemacht hat und dass er auf dieser Ebene verstanden wurde.
Hatten Sie Bedenken, dass diese Komplexität hinter den vielen Nackt- und Sexszenen untergehen könnte?
Juri: Ich habe den Menschen gesehen und kein Monster. Deswegen hatte ich keine Bedenken. Vielleicht sind das Buch und der Film ein bisschen einseitig besprochen worden. Ich finde aber, dass ein universelles, existenzielles Thema dahinter steht. Nacktheit hat bei Helen eine emotionale Dimension und steht für einen seelischen Zustand. Es geht um existenzielle Nöte, um Einsamkeit und ihre Familiengeschichte und die Generation der Scheidungskinder. Es ist für Helen so schwierig zu vertrauen, und darum konfrontiert sie die Menschen in ihrem Umfeld mit den krassesten Sachen, um zu schauen, ob sie es wirklich ernst mit ihr meinen. Es ist wie eine Prüfung, die man bei ihr bestehen muss, und ein Schutz, den sie sich zugelegt hat. Sie fühlt sich selbst wie ein Bakterium, weil sie sich von ihren Eltern verstoßen fühlt.
Gab es Szenen, die Ihnen besonders schwergefallen sind?
Juri: Nein. Die Figur muss sich vor mir immer rechtfertigen, und wenn Nacktheit unberechtigt ist, ist das für mich unspielbar. Das war hier aber nie der Fall.
Hatten Sie den Roman vorher gelesen?
Juri: Nein. Ich war nicht in Europa, als das Buch rausgekommen ist. Ich war da in den Staaten auf der Schule und hab' das erst später mitbekommen, als das Casting dann stattfand.
Bei der Berlinale wurden Sie als Neuentdeckung gefeiert, und Ihre Darstellung der Helen kommt bei Kritikern gut an. Glauben Sie, die „Feuchtgebiete“ bedeuten einen Karriereschritt für Sie?
Juri: Ich habe das Bedürfnis, jeder Figur, die ich spiele, gerecht zu werden. Die Geschichte von Filmen und die Figuren in Filmen sind viel größer als das eigene Leben. Und darum ist für mich jeder Film wichtig und jede Geschichte eines Menschen. Das ist größer als ich und mein kleines Leben.
Warum denn das?
Juri: Das sind Schicksalsgeschichten und Geschichten von universellen Themen, Menschheitsgeschichten. Das ist wie Musik, da steckt auch ganz viel Menschheit drin, wie Literatur und wie Kunst allgemein. Wenn man sich ein Bild anschaut, wie das den Raum füllen kann . . . Es hat eine ganz andere Dimension. Die Kunst ist größer als das eigene Leben.
Hat sich Charlotte Roche wirklich so rausgehalten, wie sie behauptet?
Juri: Ja, das hat sie. Ich habe sie erst nach dem Dreh kennengelernt. Sie hat mich angerufen und ist ausgeflippt. Sie fand es super, und das war schön. Ohne Worte haben wir gecheckt, dass es für sie auch schön ist so, wie ich das interpretiert habe.
Was wünschen Sie sich von den Zuschauern?
Juri: Dass sie den Film ohne Vorurteile schauen, sich auf dieses komplexere Frauenbild einlassen und, wie ich, Helen als Mensch sehen und nicht als Monster.
Ist „Feuchtgebiete“ ein feministischer Film?
Juri: Das Buch hat sicher so eine Diskussion ausgelöst, für mich wäre Feminismus allein aber nicht existenziell genug gewesen, um Helen zu spielen, und ich weiß auch nicht, ob Helen weiß, dass sie eine Feministin ist. Sie hat ja gar nicht das Gefühl, sie ist etwas wert. Menschen am Rande der Gesellschaft wie Helen haben keine Botschaft, das sind Überlebenskämpfer. Feminismus ist ja eine kalkulierte Rebellion, und das ist es bei Helen sicher nicht. Ihre Rebellion ist purer und existenzieller. Sie kann sich Feminismus gar nicht leisten.