Die Fahne hängt tief auf dem Bayreuther Festspielhausdach, von der Seite könnte man meinen, sie wehe auf Halbmast. Ist was passiert? Kurzer Anruf im Pressebüro: „Wir sind alle quicklebendig“, vielleicht sei der Wind schuld. Der Wind. Er sorgt auch in Frank Castorfs „Walküre“-Inszenierung für Unruhe, streicht um die Ecken der Ölfarm in Aserbaidschan und weht die Revolution heran. Castorf hat kaum etwas verändert an der Inszenierung, die den Gegenpol bildet zum „Rheingold“ am Vorabend: Da passiert schon laut Libretto viel, Castorf packt die doppelte Portion Action dazu.
In der „Walküre“ halbiert er sie. Er entschleunigt alles, reduziert, bremst ab – und zeigt wieder, dass es ihm gar nicht so sehr darum gegangen sein kann, die Musik von Richard Wagner zu entkräften und kaputtzubügeln. Tatsächlich verlässt er sich voll auf sie, seine kleine Geschichte der Sowjetrevolution, die er auf ihren Rücken gebunden hat, würde sofort in sich zusammenfallen, die spektakuläre Bilder bietet, in der viertelstundenweise aber nichts passiert. Außer Stehtheater, Rampensingen. Was sofort dazu führt, dass im Parkett Programmhefte krachend auf den Boden fallen, weil ihre Besitzer eingeschlafen sind; hin und wieder wird leise geschnarcht
Raffinierte Brechung
Das ist sie, die raffinierte Brechung der Erwartungshaltung: Castorf steckt das Spielfeld ab – und ist dann konventioneller, als man es eigentlich wollen kann. Und es ist rührend, dass der alte Theaterzyniker ein Schlussbild hinstellt, das nicht nur schön, sondern auch ziemlich kitschig ist und bewirkt, dass man beim Zuschauen fast sentimental wird: ein brennendes Ölfass vor dem Scheunentor, darüber Nebel und Lichterketten, dahinter eine Ölförderpumpe, die nach der Arbeit ruht wie ein großes, müdes Tier.
Das kann man toll finden, faszinierend, heimelig. Auch wenn man vorher großer Gefühle für die Wurzeln des Kommunismus eher unverdächtig war. Aber das ist natürlich reines Kalkül, es ist ja nicht so, dass ein erprobter Hoffnungsgegner nichts ausrichten könnte gegen das optimistische, vorfreudige Ende der „Walküre“. Nur eine Waffe taugt: Nostalgie. Castorf erzeugt einfach eine Idylle und schraubt die Fallhöhe nach oben. Damit alles im „Siegfried“ noch krachender auf dem Boden zerschlägt.
Den Sängern nützt Castorfs Zurückhaltung sehr. Anja Kampe und Johan Botha sind – zum letzten Mal – ein strahlendes Wälsungenpaar, das sich klug die Kräfte einteilt und sich immer weiter steigert. Wolfgang Koch und Claudia Mahnke haben sich im „Rheingold“ am Vorabend auf Betriebstemperatur gebracht, Mahnke war als Fricka schon letztes Jahr toll, diesen Sommer kommt auch Wolfgang Koch aus der Reserve. Auf einmal ist sie da, die Stimme, das Volumen, die Wotan-Farbe. Auch Catherine Foster als Brünnhilde zeigt noch mehr Selbstbewusstsein als in den Vorjahren, ihre Brünnhilde ist jetzt voll da, und: Sie bleibt, fast als einzige, der Produktion erhalten. Auch Kwangchul Youn, der tolle Hunding, hört nach diesem Sommer auf.
Und Kirill Petrenko strickt weiter an seinem persönlichen Bayreuth-Mythos, von den flackernden Streichern im Vorspiel über den „Nothung“-Trompetenruf, der im Forte beginnt, aber im Piano endet, bis zum stolzen Breitband-Finale, das eigentlich überhaupt nicht nach Petrenko klingt, aber der ist klug genug, nicht zum eigenen Klischee zu werden.