Wund sei er innerlich, klagt Heinrich von Kleist am 10. November 1811 in einem Brief an die Cousine. Der Gedanke an den Tod durch die eigene Hand scheint sich im Kopf des Dichters immer stärker festzusetzen. Krebskrank, ist auch Henriette Vogel von Todessehnsucht erfüllt. Sie will den letzten Weg zusammen mit ihrem Freund gehen. Am 21. November 1811 jagt ihr Heinrich von Kleist in der Einsamkeit des Kleinen Wannsees eine Kugel durch die Brust. Dann schiebt er sich den Lauf der Waffe in den Mund und drückt ab. Er ist 34 Jahre alt.
Kurz vor dem Tod scheint die innere Wunde verheilt: „Zufrieden und heiter“ sei er, schreibt Kleist kurz vor seinem Tod an Halbschwester Ulrike, und: „Möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich.“ Der Dichter, dem „auf Erden nicht zu helfen war“ – im Angesicht des Todes mit dem Leben versöhnt?
Als Wendepunkt in Kleists Leben gilt der Aufenthalt in Würzburg. Der am 10. oder 18. Oktober 1777 geborene Adelsspross hält sich im Herbst 1800 in der Domstadt auf. Großartig geschrieben hat er da noch nichts. Seine literarische Produktion beginnt erst im Jahr darauf. Am 16. November 1800 schreibt er an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge, er stehe „vor dem wichtigsten Tage meines Lebens“. Was genau in Würzburg geschah – Literaturwissenschaftler und Biografen tappen noch heute im Dunklen.
In geheimer Mission
Großspurig steigt Kleist um den 9. September herum im „Fränkischen Hof“ (an der heutigen Juliuspromenade), dem ersten Haus am Platze, ab. Er nennt sich Klingstedt. Mathematik-Student sei er, Sohn eines invaliden schwedischen Kapitäns und von der Insel Rügen, fabuliert er. Ludwig von Brockes, der ihn begleitet, nennt sich Bernhoff. Den beiden Freunden scheint schnell das Geld auszugehen. Nur eine Woche später ziehen sie aus dem „prächtigen Gasthofe“ (Kleist) in ein Privatquartier am heutigen Schmalzmarkt 3. „Wir haben das Eckzimmer mit 4 Fenstern von zwei Seiten“, notiert der angebliche Herr Klingstedt.
Etwa 80 Briefseiten sind aus Kleists Würzburger Zeit überliefert, „so viel wie aus keiner Lebensphase“, schreibt Eberhard Siebert in seiner Kleist-Bildbiografie. Auch der ausgewiesene Kenner kann indes nur spekulieren. Der Dichter habe sich über den Zweck seines Aufenthalts stets nur „in Andeutungen“ geäußert. Kleist versprach seiner Verlobten Wilhelmine Zenge per Post, er werde ihr dereinst seine „dunklen Äußerungen“ erklären. Sollte er's getan haben – überliefert ist davon nichts. Wo viele Geheimnisse und wenige Fakten sind, wird spekuliert. Indizien gibt es, laut Siebert, „für jede“ der folgenden Hypothesen:
Nummer eins: Kleist sei nach Würzburg gereist, um eine Vorhaut-Verengung (Phimose) behandeln zu lassen. Das briefliche Versprechen an die Verlobte, er werde beim persönlichen Treffen alles aufklären, bekäme dann einen pikanten Beigeschmack . . .
Nummer zwei: Kleist habe sich an der Uni auf ein akademisches Lehramt vorbereiten wollen. Oder: Er habe um Aufnahme in eine Freimaurerloge gebeten. Es gibt auch die These, Kleist sei ein begeisterter Zocker gewesen und habe an einer mathematischen Strategie für Glücksspiel gearbeitet. Das könnte den plötzlichen Auszug aus dem teuren Gasthof erklären: Hatte er „an seinem wichtigsten Tag“ alles auf eine Karte gesetzt – und sein Geld verspielt?
Wolfgang de Bruyn, Direktor des Kleist-Museums in Frankfurt an der Oder, der Geburtsstadt des Dichters, favorisiert die Hypothese, Kleist habe in Würzburg „Wirtschaftsspionage“ betrieben. Das sei seiner Abenteuerlust entgegengekommen. Auch Biograf Eberhard Siebert hält das für wahrscheinlich. Um „Spionage zugunsten der preußischen Textilindustrie“ sei es gegangen. Indiz: Kleist schreibt am 25. November an Halbschwester Ulrike: „ . . . es kommt dabei hauptsächlich auf List und Verschmitztheit an. Die Inhaber ausländischer Fabriken führen keinen Kenner in das Innere ihrer Werkstatt.“
Der angebliche Student aus Rügen soll auf der Jagd nach der Formel für das sogenannte Pickelgrün gewesen sein. Das hatte der Würzburger Chemie-Professor Georg Pickel (1751 bis 1838) in den frühen 1780er Jahren erfunden. „Bei den Farben überschnitten sich die Würzburger Produktion und die Interessen der preußischen Gewerbeförderung“, argumentiert Siebert. Kleist habe sich auf geheime Mission begeben, um sich für einen Job im preußischen Manufaktur-Kollegium zu empfehlen.
So zurückhaltend er bei Äußerungen über den Zweck seines Würzburg-Aufenthalts ist, so deutlich wird der junge Mann, wenn er die Stadt beschreibt. Bei der Straßenplanung sieht Kleist „regellosesten Zufall“ am Werk. Die Abteikirche von Ebrach gefällt ihm besser als alle Würzburger Gotteshäuser.
Für die einzige Leihbibliothek der Stadt – seinerzeit im Bronnbacher Hof – hat der Literaturfreund nur Spott übrig. In einem Brief an Wilhelmine (14. September 1800) schildert er einen Büchereibesuch in Dialogen zwischen ihm und dem Bibliothekar: Schiller, Goethe, Wieland hätte er gerne geliehen, sagt Kleist. „Die möchten hier schwerlich zu finden sein“, ist die Antwort. Kleist, verwundert: Seien denn alle Werke dieser Geistesgrößen ausgeliehen? Aber nein, Derartiges führe man gar nicht, weil's der Würzburger nicht lesen mag. Was der denn dann lese? Der Bibliothekar deutet in die Regale: „Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.“
Was immer auch Heinrich von Kleist nach Würzburg trieb: Die Mission ist wohl kein Erfolg. Er bringt nur Schulden nach Hause. Die Verlobung mit Wilhelmine platzt. Eberhard Siebert sieht den jungen Mann in einer Lebenskrise, die durch die Lektüre von Kant verschärft wird. Kleist versteht den Philosophen so, dass der Mensch von der Wahrheit getrennt lebt. Alles ist Einbildung. Alles Lüge? Ein Grund, für den hochsensiblen Dichter, nicht mehr in dieser Welt leben zu wollen?
Eine Kleist-Hör-Biografie mit Zitaten aus Briefen und Kommentaren von Wolfgang de Bruyn, Direktor des Kleist-Museum, ist bei Multiskript, Eppstein, erschienen. www.multiskript.de
Heinrich von Kleist – Werk und Wirkung
Der Offizierssohn trat mit 14 in die Armee ein, bat nach „sieben verlorenen Jahren“ aber um seinen Abschied. Kleists weiteres Leben verlief unruhig, sprunghaft und von Krisen zerrüttet. Er war viel auf Reisen. Als Redakteur von Zeitschriften und Zeitungen hatte er nicht viel Erfolg. Auch als Schriftsteller stieß er bei Zeitgenossen nur auf schwache Resonanz. Sämtliche Dramen und Erzählungen entstanden in seinen zehn letzten Lebensjahren, also nach dem Aufenthalt in Würzburg im Jahr 1800. Als Meisterwerk, das auch häufig aufgeführt wird, gilt heute das Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ (1808, vollständig veröffentlicht 1811). Weitere bekannte Dramen sind die „Hermannsschlacht“(1806), „Amphitryon“ (1807) nach Moliere und das Ritterdrama „Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“ (1807/08). Ungewöhnlich ist generell Kleists Neigung, die Grenzen zwischen Tragödie und Komödie zu verwischen. Mit seinen Erzählungen (1810/11 veröffentlicht) gehört Kleist zu den Begründern der deutschen Novelle. Der wichtigste und bekannteste Text ist die umfangreiche Erzählung „Michael Kohlhaas“. Die Nazis sahen in dem vermeintlich „patriotischen“ Dichter eine ideale Möglichkeit, den deutschen Faschismus aus preußischen Traditionen zu legitimieren. Roland Freisler, der spätere Vorsitzende am sogenannten Volksgerichtshof, sah „Frontsoldatengeschlecht“ und „Jugend“ zur Macht gekommen. Für beide Stereotypen schien Kleist eine ideale Projektions- und Identifikationsfigur. Heinrich von Kleist wurde – wie viele andere Künstler – von den Nationalsozialisten für Propagandazwecke missbraucht. Das jetzt erschienene Buch des Germanisten Martin Maurach „Ein Deutscher, den wir erst jetzt erkennen“ setzt sich mit diesem Aspekt der Wirkungsgeschichte des Kleist'schen Werkes auseinander (564 Seiten mit 30 Abbildungen, 20 Euro, erschienen im Kleist-Archiv Sembner, Heilbronn, www.kleist.org) Text: hele