Sehr geehrter Herr Professor Berthold, der Anlass dieses Briefes ist klar und schnell erzählt: Wintervogelzählung.
Seit zehn Jahren ruft der Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) immer zu Dreikönig zur „Stunde der Wintervögel“ auf. Und seit 2011 macht auch der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) bei der großen Zählaktion mit. Die beiden Verbände treiben da im Vorfeld stets viel PR und verkünden hinterher stolz, wie viele Vogelfreunde wieder eine Stunde lang aus dem Fenster geschaut und Vögel gezählt haben. 136.000 sollen es im vergangenen Jahr gewesen sein, also nicht Vögel, sondern Teilnehmer. Sie übermittelten Zählungen aus über 92.000 Gärten. Der Nabu meldete: neuer Rekord!
Lieber Herr Professor Berthold, und dann kommen ausgerechnet Sie und sagen: eigentlich Quatsch. Gut, das ist jetzt frei übersetzt. Was Sie sagen, ist: Vögel zu zählen ist eine sehr schwierige Geschichte und eine Wissenschaft für sich, die alljährliche kollektive Bestandsschätzung deshalb „nahezu bedeutungslos“. Dabei gibt es hinterher immer so schöne Ranglisten und Auswertungen, sogar aufgedröselt für jeden Landkreis und Bezirk: Platz eins für die Kohlmeise vor Haus- und Feldspatz, Buch- und Grünfink auf Platz 6 und 7 abgerutscht. Dafür auf Rang 21 der häufigsten Arten schon der Star, der eigentlich Zugvogel ist, sich aber offensichtlich inzwischen die Reise in den warmen Süden spart.
Alle Auswertungen Quatsch? Die Initiatoren der „Stunde der Wintervögel“ werben ja damit, dass es um möglichst viele Daten über das Verhalten von Star, Amsel und Zilpzalp geht, dass sie wissen wollen, wer im Winter hier bleibt und wer fortzieht. Dass es um die Auswirkungen der Winterfütterung geht, um die Folgen des Klimawandels und die Bestandsentwicklung allgemein . . .
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Und dann sagen justament Sie, Deutschlands bekanntester und oberster und sicher auch mitreißendster Ornithologe, dass die ganze Zählerei keine Bedeutung hat. Weil laienhaft, also fehlerbehaftet, unwissenschaftlich und methodisch sowieso fragwürdig . . .
Keiner hat in den vergangenen Jahren so viele lesbare und lehrreiche Bücher über Vögel geschrieben wie Sie, der schon lange emeritierte, ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts in Radolfzell und Weggefährte Heinz Sielmanns. Sie gelten als Koryphäe, weltweit stützen sich wissenschaftliche Institute auf Ihre Forschung, Medien reißen sich um Sie, Ihre Büchersind populär, Ihre Vorträge legendär und jede noch so langweilige Talkshow mischen Sie mit ihrem Witz und ihren klaren Ansagen auf.
Sie können das halt einfach gut. Mit ausgebreiteten Armen und hängendem Kopf dasitzen, die imaginären Schwingen heben und senken, quasi im Schweben wie ein Rotmilan den Boden nach Beute absuchend, kurz bevor ihn – zack! – das Rotorblatt des Windrads trifft. Sie machen Sachverhalte anschaulich, komplexe Zusammenhänge verständlich. Weil Sie kein Wissenschaftlerchinesisch reden, sondern liebevoll von Piepmäzen sprechen, unbequeme Fakten in einfachen Worten erklären, immer unterhaltsam und gerne auch mal auf Schwäbisch.
So, auf solch Lobgesang werden Sie jetzt pfeifen. Mit dem Rummel um ihre Person machen Sie nämlich nicht viel Federlesens. Und zu Markus Lanz gehen Sie nicht aus Eitelkeit. Sondern weil Sie da fünf, sechs Millionen Leuten was darüber erzählen können, dass die Zahl der Vögel in Deutschland in den vergangenen 200 Jahren um 80, um 80!! Prozent zurückgegangen ist. Darüber, dass Sie in Ihrem Hausgarten und in Ihrer kleinen Landwirtschaft am Bodensee die Klappergrasmücke und den Bluthänfling nicht mehr angelockt bekommen. Darüber, dass man sich um nahezu alle heimischen Vogelarten Sorgen machen muss, weil die Piepmätze selbst in der „offenen“ Landschaft und vermeintlichen „Natur“ kaum noch Futter finden, nachdem Monokulturen und Chemiekeulen Hecken, Blumen- und Wildkräuterwiesen ausradiert haben.
Und das ist auch der Grund dafür, dass Sie die „Stunde der Wintervögel“ doch gut und wichtig finden: Damit wir alle uns endlich wieder mit Vögeln beschäftigen. Damit uns vielleicht selbst auffällt, schon lange keinen Erlenzeisig mehr gesehen zu haben und gar nicht mehr zu wissen, wie ein Wintergoldhähnchen eigentlich aussieht. Damit wir uns Gedanken machen und, um dieses Wochenende wenigstens auch ein paar Vögel sehen zu können, einen Meisenknödel aufhängen und das Futterhäuschen füllen.
Sterben die Vögel aus, hat auch unsere Stunde geschlagen, sagen Sie. Weil wir ohne die gefiederten Schädlingsvertilger, die durch keine noch so großen Giftmengen ersetzbar sind, unsere Ökosystem nicht mehr stabil halten können. Das Problem sei, dass den Vögeln in unserer aufgeräumten Landschaft die Lebensgrundlage, das Futter fehlt. Nicht nur im Winter, deshalb raten Sie zur ganzjährigen Fütterung, Herr Professor Berthold. Damit die Vögel auch in der Brutzeit, wenn sie mächtig viel Energie brauchen, genug zu picken und schnabulieren haben. Also, Meisenknödel raus, nicht nur zur Zählaktion. Sondern mindestens bis April. Versprochen.
Mit herzlichen Grüßen, Alice Natter