Die Ergebnisse der Studie sind so schockierend wie deutlich. Frauen mit Behinderungen sind viel häufiger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Handicap, viele von Kindheit an. Die Betroffenen sind kaum geschützt, gleich ob sie in einer Familie oder einer Einrichtung leben. Sie können sich oft nicht so gut artikulieren, wirken deshalb erst einmal unglaubwürdiger. Die meisten Täter sind Menschen aus dem näheren Umfeld, andere Heimbewohner, Verwandte, Betreuer, Menschen, die sie versorgen, die ihr Vertrauen besitzen.
Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle hat die erste repräsentative Studie zu „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ geleitet und stellte die Ergebnisse in Schweinfurt vor. Das Interesse war sehr groß, viele Behinderte kamen und Vertreter zahlreicher Organisationen. Eingeladen hatte der „Runde Tisch gegen Häusliche Gewalt“, das sind die Gleichstellungsbeauftragten von Stadt und Landkreis, Vertreter von Jugendamt, Gericht, Polizei, Frauenhaus und Beratungsstellen, die sich regelmäßig treffen und nun auch das Thema „sexuelle Gewalt gegen Behinderte“ in den Blick nehmen. Denn die Erfahrungen von Schweinfurter Frauenhaus und Anlaufstelle sexuelle Gewalt decken sich mit den Ergebnissen der Studie. Und auch die Schweinfurter Lebenshilfe, die mehr als 2500 Menschen mit Handicap in der Region betreut, sieht enormen Handlungsbedarf. Rita Weber, Leiterin der Offenen Hilfen der Lebenshilfe, bestätigte bei der Veranstaltung, dass die Wirklichkeit so sei, wie Monika Schröttle sie beschreibe.
In der Studie wurden mehr als 1500 Frauen befragt. Danach hat – je nach Untersuchungsgruppe – jede zweite bis vierte behinderte Frau sexuelle Gewalt erlebt, viele schon als Kinder. Am stärksten gefährdet sind gehörlose Frauen. 43 Prozent der Befragten gaben an, als Erwachsene sexuelle Gewalt erfahren zu haben, drei Viertel berichteten über körperliche Gewalt. Diese Zahlen machen allerdings deutlich, wie viel Gewalt gegen Frauen es generell gibt und dass es gefährlich wäre, den Blick nur auf die Randgruppen zu richten.
Untersuchungen ergaben, dass 35 Prozent aller Frauen im Lauf ihres Lebens Opfer körperlicher Gewalt werden und 58 bis 75 Prozent der behinderten Frauen. Dramatisch klingen auch die Antworten der behinderten Frauen auf die Frage nach psychischer Gewalt. Zwischen 68 und 90 Prozent berichteten von Beleidigungen, Beschimpfungen, Demütigungen und Drohungen. Weil schwerstbehinderte Frauen, die sich kaum sprachlich ausdrücken können, nicht befragt wurden, vermutet Monika Schröttle große Dunkelfelder. Wer sind die Täter? Psychische Gewalt in Einrichtungen geht eher vom Personal aus, körperliche und sexuelle Gewalt eher von Mitbewohnern. Auch das hat die Studie gezeigt. Rita Weber berichtete, dass es oft noch schwieriger sei, Gewalt im häuslichen Umfeld aufzudecken als in Einrichtungen. „Die Mehrzahl unserer Leute lebt zu Hause, bis die Eltern zu alt sind, um sich zu kümmern“. Viele pflegende Angehörige nehmen kaum Hilfen in Anspruch. Je stärker ihre Belastung, umso höher die Gefahr für die ihnen anvertrauten Menschen.
Die Lebenshilfe setzt auf Prävention. Sie will die Angehörigen entlasten und die Behinderten stärken. Der Satz von Rita Weber „es ist viel besser, mit ihnen zu reden als über sie“ macht die Zielsetzung deutlich. Menschen mit Behinderungen brauchen nicht nur Unterstützung und Schutz gegen Gewalt und Diskriminierung, sie haben vor allem ein Recht auf so viel Selbstbestimmung wie möglich – und das schließt ihre Sexualität mit ein. Noch immer gibt es, auch das zeigt die Studie, in vielen Einrichtungen zu wenig Mitbestimmung, zu wenig Privat- und Intimsphäre. „Wer entscheidet denn, ob ein Paar zusammenleben darf?“ Diese Frage einer gehörlosen Frau lässt ahnen, wie weit der Weg zur Inklusion noch ist. Und noch eines wurde deutlich bei dieser Veranstaltung: So groß das Problem auch ist, es wäre falsch, behinderte Frauen nur noch in der Opferrolle zu sehen.
Forschung und Hilfsangebote
Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle leitet viele Forschungsprojekte zum Thema Gewalt gegen Frauen am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Uni Bielefeld, darunter die erste repräsentative Studie zu den „Lebenssituationen und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“.
Der „Runde Tisch gegen Häusliche Gewalt“ vernetzt seit 1996 die Arbeit von Polizei, Gericht, Jugendamt, Frauenhaus und Fachberatungsstellen in Stadt und Landkreis Schweinfurt.
Das Bundesfamilienministerium hat ein Hilfe-Telefon „Gewalt gegen Frauen“ geschaltet: Tel. 08000116016. Es gibt einen Infoflyer in leichter Sprache. Vor Ort bieten beispielsweise die Frauenhäuser und Anlaufstellen sexuelle Gewalt und der Verein Weißer Ring Beratung.