Das L-Wort vermeidet der sächsische Ministerpräsident – der „harte und klare Wellenbrecher“ aber, von dem Michael Kretschmer spricht, wäre nichts anderes als ein neuer Lockdown. Wie in Österreich, wo mit Salzburg und dem benachbarten Oberösterreich mindestens zwei Bundesländer das öffentliche Leben wieder herunterfahren wollen, nimmt der Kampf gegen die steigenden Infektionszahlen auch in Deutschland immer verzweifeltere Züge an. Das ist, einerseits, verständlich angesichts der aktuellen Lage – andererseits aber auch ein Ausdruck politischer Hilflosigkeit.
Der Politik fehlt es an Weitsicht und Teamgeist
Die Debatte um das neue Infektionsschutzgesetz und das Gezerre um die Ministerpräsidentenkonferenz zeigen einmal mehr, woran es der deutschen Politik in dieser historischen Krise fehlt – nämlich an Weitsicht und an Teamgeist. Einmal mehr wird die vermeintlich so gut organisierte Bundesrepublik von den Problemen überrumpelt, doch anstatt sich auf einen gemeinsamen nationalen Kraftakt zu besinnen, dominieren im Bundestag und einigen Ländern parteipolitische Interessen und persönliche Profilierungsversuche, begleitet von immer stereotyper vorgetragenen Impfappellen. Gehandelt wird nur unter Druck und meist in letzter Sekunde – bis zur nächsten Welle.
Dabei ist die Pandemie an einem Punkt angelangt, an dem die Politik die alten Rezepte neu überprüfen muss. Natürlich sollen sich möglichst viele der 15 Millionen Ungeimpften noch impfen lassen. Das aber kostet Zeit, Nerven und bringt auf die Schnelle nicht viel. Umso wichtiger wäre es, den nachlassenden Impfschutz der Geimpften mit einem Booster zu erneuern – das reduziert die Virenlast und die Weiterverbreitung des Virus. Ein Ungeimpfter, der viermal pro Woche getestet wird, kann für seine Mitmenschen ein geringeres Risiko sein als ein Geimpfter, der seine letzte Spritze vor einem halben Jahr erhalten hat. Ob die in den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz angedeutete Booster-Offensive hält, was sie verspricht, ist nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres mindestens fraglich. Nicht nur in Bayern sind Impftermine ein knappes Gut.
Ungeimpfte ihrer Freiheiten zu berauben ist eine Blamage
Auch sonst läuft das Krisenmanagement von Bund und Ländern alles andere als rund. Eine Impfpflicht für Gesundheitsberufe wird zwar seit Wochen diskutiert, beschlossen aber ist sie nicht. Dass in Bussen und Bahnen nur noch Genesene, Getestete und Geimpfte sitzen sollen, ist zwar vernünftig – aber wer kontrolliert das und wie kommt ein Pendler auf dem Weg zur Frühschicht morgens um fünf an einen Schnelltest? Dass in weiten Teilen des Landes nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt zu Restaurants, Museen oder Veranstaltungen haben, macht angesichts der steigenden Zahlen zwar epidemiologisch Sinn. Millionen von Ungeimpften so ihrer Freiheiten zu berauben, aber ist ein verfassungsrechtlich heikles Unterfangen, um nicht zu sagen eine Blamage für den Rechtsstaat.
Während Staaten wie Spanien oder Italien Corona halbwegs im Griff haben, ist die Lage in Deutschland schlimmer statt besser geworden. Den Lockdown, den es nicht mehr geben sollte, macht das immer wahrscheinlicher: Ein Land, das sich nach nichts mehr sehnt als nach Normalität, haftet kollektiv für die organisierte Umständlichkeit seiner Politiker. Schon im August haben die Gesundheitsminister von Bund und Ländern über die Notwendigkeit einer Auffrischungsimpfung beraten. Passiert ist – nichts. Von den 27 Millionen Boostern bis Ende des Jahres, die Angela Merkel angeblich in der Ministerpräsidentenkonferenz als Ziel genannt hat, ist Deutschland so weit entfernt wie Jens Spahn vom Kanzleramt.