Im Idealfall sollte eine digitale Welt zu umfassender Transparenz und vollkommener Information führen. Detailwissen muss nicht mehr erlernt werden, sondern steht bei Google und Wikipedia zum Abruf bereit. Stück für Stück bewegen wir uns jedoch in dieser digitalen Welt auf eine Dystopie der „Matrix“-Filme zu, bei denen Wissen durch einen Datentransfer in die Gehirne der Individuen, einer Festplatte gleich, transferiert wird. Wissen per se ist nicht mehr Macht, sondern Macht wird durch die Anwendung des Wissens gewonnen.
Obwohl unsere Gesellschaft wohl nie informierter war als jetzt, oder es – aufgrund von Fake News – zu sein glaubt, verhält sie sich wenig rational. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump, der laut „Washington Post“ mittlerweile über 10 000 falsche oder irreführende Aussagen gemacht hat und weiterhin macht, besitzt dennoch gute Chancen auf eine Wiederwahl. Der neue britische Premierminister Boris Johnson hat vor drei Jahren das Brexit-Referendum seines Volkes mit Unwahrheiten über das Verhältnis Großbritanniens zur Europäischen Union beeinflusst – nun steht er an der Spitze eines ob dieser Entscheidung in sich zerrissenen Landes.
Bei einem Informationsüberfluss treffen wir Entscheidungen primär emotional
Wie kann in einer informierten Welt Desinformation so bedeutend werden? Wie können Lügen so schnell vergessen werden? Warum können bewusst gestreute Falschinformationen in einer Welt potenziell vollkommener Information ihre Wirkung entfalten? Wie können bewusst getroffene Falschaussagen denjenigen, der sie gemacht hat, in höchste Ämter führen?
Der Grund für unser irrationales Verhalten liegt in der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität unseres Gehirns. Wir treffen Entscheidungen in einem Zusammenspiel logischer und emotionaler Muster. Sobald wir zu viele Informationen erhalten, wird die logische Informationsverarbeitung überfordert, womit Entscheidungen primär über Emotionen getroffen werden. Das Fatale an dieser Situation ist, dass emotional gesteuerte Entscheidungen allein von unseren Einstellungen und somit von Vorurteilen, Klischees und Erfahrungen genährt werden. Durch diese emotional gesteuerten Entscheidungen und Wahrnehmungen können sich folgende psychologische Entscheidungsmuster entfalten:
Musterillusion: Menschen suchen nach Mustern, an denen sie sich ausrichten können. Sobald man Muster aus der Vergangenheit zu erkennen glaubt („das war schon immer so“), richtet man seine Entscheidung danach aus.
Begründungsrechtfertigung: Das Nicht-Erreichen von Zielen wird besser akzeptiert, sobald mehr oder minder sinnvolle Begründungen geliefert werden („alles nur passiert, weil“). Sobald der Leser einer Information einen Grund für ein Verhalten erkennt, sieht er dieses Verhalten bereits als gerechtfertigt an.
Gefahr der einfachen Logik: Entscheider tendieren bei großen Informationsmengen zu übereilten logischen Schlüssen. Beispiel: In einem Kaufhaus kosten ein Schokoriegel und ein Kaugummi zusammen 1,10 Euro. Der Schokoriegel ist um einen Euro teurer als der Kaugummi. Wie teuer ist der Kaugummi? – Aufgrund der Informationen tendieren wir schnell dazu, den Kaugummi mit 10 Cent zu bewerten (korrekt wären 5 Cent). In gleicher Form werten wir auch andere Informationen übereilt in der für uns schlüssigsten Form aus und treffen somit vorschnelle, häufig inkorrekte Entscheidungen.
Unser Gehirn kann bei großen Informationsmengen manipuliert werden
Schläfer-Effekt: Informationen aus einer unglaubwürdigen Quelle gewinnen mit der Zeit an Glaubwürdigkeit, da die Quelle in Vergessenheit gerät. Diese in Propagandafeldzügen, aber auch in der Werbung genutzte Technik lässt uns die Glaubwürdigkeit einer Botschaft immer mehr als wahr annehmen, je stärker diese penetriert wird.
In-Group/Out-Group Bias: Verhaltensmuster werden nach Gruppenidentifikation bestimmt, womit die Gruppenzugehörigkeit unser Entscheidungsverhalten definiert. Die Gruppensicht, der ich mich zugehörig fühle, motiviert zu vorurteilsbehafteter und stereotyper Sicht der Menschen außerhalb der Gruppe. Die Gruppenmeinung zieht eine imaginäre Grenze zu allen Subjekten außerhalb der Gruppe.
Die aufgezeigten psychologischen Effekte treten mit erhöhter Informationsmenge verstärkt auf. Mit mehr Informationen glauben wir zwar, besser informiert zu sein, unterliegen aber umso deutlicher den dargestellten Fehlentscheidungstendenzen. Die Macht der Desinformation offenbart sich somit im Zusammenspiel erhöhter Informationsmengen und der unbewussten Akzeptanz psychophysischer Entscheidungshilfen. Unser Gehirn kann, ja will bei großen Informationsmengen manipuliert werden. Vergessen wir also bei jeglicher Entscheidung nie den emotionalen Anteil unserer Informationswahrnehmung – das schützt uns vor Fehlentscheidungen.
Matthias Müller-Reichart Der Würzburger ist Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement an der Hochschule RheinMain, Studiendekan der Wiesbaden Business School und Einzelhändler in Würzburg. Matthias Müller-Reichart ist zudem Autor von über 140 Veröffentlichungen im Rahmen der Versicherungswirtschaft und des Risikomanagements und Berater zahlreicher nationaler und internationaler Versicherungsunternehmen. 2018 wurde er mit dem Lehrpreis der Hochschule RheinMain ausgezeichnet. FOTO: W. Siebenbuerger