Erinnern Sie sich noch an Ihren Religionsunterricht? Für viele stand „Reli“ nicht gerade oben auf der Liste der wichtigen Fächer. Die 45 Minuten waren oft eine willkommene Pause zwischen binomischen Formeln und Textanalyse. So ist es noch immer. Kaum ein anderes Fach wird von Eltern und Schülern so häufig infrage gestellt wie der Religionsunterricht. Mehr als zwei Drittel der Deutschen befürworten laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov seine Abschaffung und fordern stattdessen Werteunterricht. Luxemburg ist bereits einen Schritt weiter. Mit Beginn des neuen Schuljahres steht statt Religion ein neues Fach auf dem Stundenplan: Leben und Gesellschaft.
Reli-Unterricht im Grundgesetz festgeschrieben
In Deutschland ist Religion das einzige Fach, dessen Unterricht im Grundgesetz festgeschrieben ist. Im Artikel 7 heißt es im Absatz 3: „Der Religionsunterricht ist (. . .) ordentliches Lehrfach.“ Wie andere Fächer unterliegt er der staatlichen Schulaufsicht. Zugleich werde er „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Im Klartext: Die Kirchen und Religionsgemeinschaften legen fest, was die Schüler lernen. Ist das noch zeitgemäß? In den 1950er Jahren stellte sich diese Frage nicht.
Rund 90 Prozent der Deutschen gehörten dem Christentum an, der Anteil Andersgläubiger war verschwindend gering. Rund 60 Jahre später hat sich die Gesellschaft gewandelt. Heute leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft mit zahlreichen Glaubensrichtungen: Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus. Nur zwei Drittel der Deutschen sind aktuellen Erhebungen zufolge Christen. Dieser Entwicklung muss Rechnung getragen werden. Dabei steht außer Frage, dass die christliche Religion wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft und unserer Kultur ist. Christliche Werte bestimmen unser Handeln. Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit sind wichtige Tugenden – nicht nur im Christentum. Die Vermittlung konfessionsübergreifender Werte muss auch zukünftig auf dem Stundenplan stehen. Zugleich muss es Aufgabe der Schule sein, die Jungen und Mädchen zu mündigen Menschen zu befähigen, die über den eigenen Tellerrand blicken und sich eine eigene Meinung bilden können. Für die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Glauben besuchen die Jugendlichen den Kommunion- oder Konfirmationsunterricht.
Schulen nutzen ihre Chance nicht
In Zeiten, in denen die Gesellschaft vor der Herausforderung steht, Tausende Geflüchtete zu integrieren, ist gegenseitiges Verständnis unabdingbar. Nur unter Gleichgesinnten die eigene Religion in den Blick zu nehmen, aus der eigenen christlichen Perspektive über den Islam zu sprechen oder einmal einen Imam in den Unterricht einzuladen, greift zu kurz. Mehr noch: Es ist eine vertane Chance. Warum nutzen die Schulen nicht die Möglichkeit der Begegnung, die Möglichkeit, in einem gemeinsamen Unterricht mit Muslimen und Christen, mit Juden und Buddhisten über die jeweiligen Religionen zu sprechen? So können Vorurteile ausgeräumt und Gemeinsamkeiten erkannt werden. So kann der Angst vor dem Fremden schon in der Schule entgegengewirkt werden. So kann bereits im Unterricht über religiösen Fanatismus debattiert werden. Ob dieses Fach, in dem über Religion ebenso wie über Werte und Moral diskutiert wird, nun Ethik heißt oder wie in Luxemburg „Leben und Gesellschaft“, ist zweitrangig. Wichtiger ist die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Glaubensrichtungen – für alle Seiten.