Seit das Rentenpaket der Großen Koalition zum 1. Juli 2014 in Kraft getreten ist, hagelt es Kritik von allen Seiten. Die Rente mit 63 bremst die deutsche Konjunktur, sagte Bundesbankpräsident Jens Weidmann. Die Wirtschaft befürchtet, dass Fachkräfte verloren gehen. Rentenexperte Bernd Raffelhüschen nennt die Rente mit 63 „zutiefst unsozial“, weil sie männliche Facharbeiter privilegiere. „Potenziell kommen bis 2029 weit mehr als drei Millionen Menschen für den abschlagsfreien Rentenzugang infrage“, so der Rentenexperte. Auch die Mütterente sorgt für Verwirrung: Keine Rentnerin erhielt den zum Monatsbeginn per Gesetz deutlich angehobenen Betrag für Kindererziehungszeiten überwiesen. Dies wird frühestens mit der August-Rente geschehen, kann sich aber auch bis zum Winter hinziehen. Sylvia Dünn, Leiterin des Bereichs Rente im Geschäftsbereich Rechts- und Fachfragen der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund), klärt auf.
Frage: Die Rente mit 63 steht überall in der Kritik. Verstehen Sie die Aufregung?
Sylvia Dünn: Das Interessante an der Rente ab 63 ist, dass wir nach einer Phase, in der die Anhebung der Altersgrenzen im Vordergrund stand, jetzt wieder eine Regelung haben, die eine frühere abschlagsfreie Inanspruchnahme der Rente ermöglicht.
Wie viele Anträge für die Rente mit 63 sind bislang eingegangen und wie viele erwarten Sie?
Dünn: Bei der Rentenversicherung sind bis Anfang Juli 50 000 Anträge auf die Altersrente für besonders lang Versicherte eingegangen. Die Bundesregierung geht von einem Potenzial von etwa 240 000 Personen im ersten Jahr aus, also vom 1. Juli 2014 bis zum 1. Juli 2015.
Welche Jahrgänge profitieren denn von der Rente mit 63?
Dünn: Die abschlagsfreie Rente ab 63 steht nur den Geburtsjahrgängen 1951 und 1952 zu. Danach steigt die Altersgrenze wieder schrittweise an. Ab dem Jahrgang 1964 profitiert man nicht mehr von der vorgezogenen Altersgrenze. Dann gilt wieder die Altersgrenze von 65 Jahren. Die Rente mit 63 wirkt also nur für den einen Jahrgang in vollem Umfang.
Wie viele Anträge stammen von Frauen?
Dünn: Frauen erfüllen erheblich seltener als Männer die Wartezeit von 45 Jahren. Von dem neuen Gesetz werden deshalb vorwiegend Männer profitieren.
Kann ein bereits gestellter Rentenantrag zurückgenommen werden, um die abschlagsfreie Rente mit 63 zu bekommen?
Dünn: Ein Rentenantrag kann zurückgenommen werden, solange über die beantragte Rente noch kein bindender Rentenbescheid erteilt worden ist. Bindend ist ein Rentenbescheid dann, wenn er – zum Beispiel nach Ablauf der Widerspruchsfrist – nicht mehr angefochten werden kann.
Wie wird die Rente mit 63 finanziert?
Dünn: Das gesamte Rentenpaket wird im Wesentlichen aus Beitragsmitteln finanziert. Ein kleiner Anteil läuft über eine Steuerfinanzierung. Aber den Hauptanteil zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Und auch die Rentner finanzieren das Rentenpaket über geringere Rentenanpassungen mit.
Zählt auch Arbeitslosigkeit bei der 45-jährigen Wartezeit für die abschlagfreie Rente ab 63 mit?
Dünn: Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II und Arbeitslosenhilfe zählen nicht mit. Hingegen werden Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs mit berücksichtigt– in den letzten zwei Jahren vor Beginn der Rente aber nur dann, wenn der Arbeitslosengeldbezug bedingt ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers.
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags meint, dass die Rente mit 63 deshalb gegen das Grundgesetz verstößt. Was denken Sie?
Dünn: Für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ist das Bundesverfassungsgericht zuständig. Solange das Bundesverfassungsgericht eine Regelung nicht verworfen hat, müssen wir als ausführende Verwaltung die geltenden Gesetze beachten.
Bei vielen Frauen war die neue Mütterrente in diesem Monat noch nicht auf dem Konto. Wann wird sie ausgezahlt?
Dünn: Die Mütterrente wird für diejenigen Mütter oder Väter, deren Rente schon vor Juli 2014 begonnen hat, bis spätestens zum Jahresende 2014 rückwirkend ab 1. Juli berechnet und ausgezahlt. Wer ab 1. Juli 2014 neu in Rente geht, erhält die Mütterrente schon von der ersten Rentenzahlung an.
Gibt es bei der Mütterrente eine Nachzahlung auf vergangene Jahre?
Dünn: Nein. Die höhere Mütterrente wird ab 1. Juli 2014 gezahlt. Nachzahlungen für die Zeiträume davor gibt es nicht.
Die meisten Menschen wollen früher in Rente gehen. Aber es gibt auch Menschen, die eine vorgezogene Altersrente als Teilrente bekommen, weil sie noch mehr als nur geringfügig arbeiten. Wie viele sind das?
Dünn: Es gibt etwa 3000 Altersteilrentner in Deutschland, das ist eine verschwindend geringe Zahl bei 17 Millionen Altersrentnern im Bestand.
Das Rentenpaket
Ab 1. Juli 2014 können besonders langjährig Versicherte, die mindestens 45 Jahre in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren, schon mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Ab dem Jahrgang 1953 steigt die Altersgrenze für die abschlagfreie Rente dann wieder schrittweise an. Die verbesserte Mütterrente gilt seit 1. Juli – und zwar für etwa 9,5 Millionen Frauen, deren Kinder vor 1992 zur Welt kamen. Diese Frauen erhalten einen zusätzlichen Rentenpunkt gutgeschrieben. Pro Kind sind dies brutto bis zu knapp 29 Euro monatlich im Westen und gut 26 Euro im Osten. Dies entspricht einer Verdoppelung der bisherigen Zahlung. Überwiesen wurde das zusätzliche Geld bisher aber noch nicht.